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Film Socialisme

Film Socialisme

EXPERIMENTALFILM: CH/F, 2010
Regie: Jean-Luc Godard
Darsteller: Catherine Tanvier, Christian Sinniger, Jean-Marc Stehlé, Patti Smith, Robert Maloubier, Alain Badiou

STORY:

Das neueste Filmpuzzle Godards besteht aus drei sogenannten Bewegungen.
1. Choses comme ca (solche Dinge) ist eine Art philosophische Dokumentation auf einem Kreuzfahrschiff, welches durch das Mittelmeer cruist.
2. Quo Vadis Europe erzählt von einer Familie irgendwo in Frankreich, wo die Kinder die Eltern anklagen, weil sie ihre sozialistischen Ideale aufgegeben haben.
3. Humanités, der letzte Teil besteht aus Textsprengseln und Filmfetzen, wirkt wie eine Reinterpretation des ersten Teils.

KRITIK:

Endlich der neue Godard. Und eine Debatte gibt es auch gleich mitgeliefert. Der Antisemitismus ist wieder ein Thema, zumindest im gegenwärtigen Kinodiskurs. (Irgendwie mal eine nette Abwechslung, weil der Antiislamismus geht mir eh schon langsam auf den Wecker, ich meine wann wird den Leuten endlich fad dabei?) Da wird einmal im Tal der Wölfe fröhlich gemordet und schon stürmen 100.000 (!) Zuseher den Film in Österreich. Nur weil so viel darüber berichtet wurde, sagen die einen. Ich weiß nicht, über Barb Wire wurde damals auch viel berichtet, hat sich trotzdem keiner angeschaut, oder?

Ich glaube eher, dass das einfach der türkische Blockbuster der Saison ist und unsere Migrantenjungs in Scharen strömen. Und ja vielleicht ein paar dieser eigenartigen "politischen" Kommentatoren aus dem Presseforum. Aber bevor ich mich jetzt in Behauptungen verliere komme ich jetzt lieber zum Punkt zurück.

Jean-Luc Godard, Antisemit. What? Cargo Film schrieb gleich vom Ende einer Beziehung, meinte aber nicht sich selbst. Sondern das Ereignis, an dem man Godards Antisemitismus, falls es denn einer ist, so genau weiß das niemand, zuschreibt, nämlich als er einmal den jüdischen Produzenten Pierre Braunberger als "sale juif" bezeichnet hat.

Und was hat das alles mit Film Socialisme zu tun? Das wüsste ich auch gerne. Aber vielleicht hat es etwas damit zu tun. Bei Godard wird natürlich nicht gemordet, sondern gequatscht beziehungsweise texteingesprengselt. Und es entzieht sich quasi vollständig der Deutungsmöglichkeit. Godards umstrittenes Zitat "Die Selbstmordattentate der Palästinenser, die einen palästinensischen Staat herbeiführen sollen, gleichen in letzter Instanz dem, was die Juden einst taten, als sie sich wie Lämmer in die Gaskammern führen ließen und sich so für die kommende Existenz des Staates Israel opferten.", kann durchaus als Deutungshilfe bei seinem neuesten Film herangezogen werden, denn sonst tappt man (zumindest ich) im Dunklen ...

Aber halt einmal, jetzt bin ich in medias res gegangen, bevor sich auch nur irgendjemand auskennt.

Wir sprechen von Jean-Luc Godard, der Typ der das Kino des Zwanzigsten Jahrhunderts revolutioniert hat, und dabei nur einen einzigen Film drehte, der jemals Publikum gefunden hat. Ich glaube das hat ihn auch ziemlich verbittert, soweit sogar, dass er 1967 das "fin de cinéma" beschlossen hat und sich endgültig vom Publikum verabschiedet hat, was ihn aber offenbar noch mehr verbittert hat. Also einerseits ein Typ, der nicht erwachsen werden wollte, andererseits eben ein unkorrumpierbarer Künstler, der einfach und auch relativ erfolgreich sein Ding durchzieht. Obwohl es sich das eh keiner anschaut, macht der immer noch Filme, also muss er irgendwelche Mäzene gefunden haben. Und wem Godard im Mainstreamkino abgeht, keine Sorge, es gibt ja immer noch Alain Resnais, der uns eine Vorstellung davon geben kann, wie Godard heute filmen würde, wenn er sich nicht so weit vom Publikum entfernt hätte.

Aber das ist jetzt hinfällig, denn wir jammern jetzt nicht über den Godard wie er hätte sein können, sondern wollen den Godard verstehen wie er ist. Ich habe nämlich das Gefühl, dass viele Menschen gar nichts mit ihm anfangen können, weil sie grob damit überfordert sind, einen Film zu sehen, der eben nicht den herkömmlichen Sehgewohnheiten entspricht. Und bei Godard heißt das nicht Surrealismus oder Horrorfilmmusik in einer Dramaszene, sondern das heißt von Grund auf offen zu sein und mit einer völlig anderen Art der Rezeption ans Werk zu gehen.

Ein Godardfilm folgt keiner narrativen Struktur im herkömmlichen Sinn, sondern ist eher mit einer modernen Kunstausstellung zu vergleichen. Es werden wie im Gang durch die Ausstellungsräume Bilder, Töne, Texte, Zeichen nacheinander, miteinander, übereinander angeordnet, die im ganzen eine Art Bewusstseinsstrom ergeben. Dabei werden Fragen gestellt, über Philosophie doziert, sexuelle Triebe verbalisiert und angedeutet, politische und soziale Themen angesprochen.

Der Zuseher muss also einerseits aktiv teilnehmen, wie an der Ausstellung, muss er selber die Schritte gehen, muss er selber die Inhalte verknüpfen, andererseits ist das viel stimulierender als eine fade Museumstour, weil diese Filme trotz aller Kopflastigkeit eigentlich sehr musikalisch und lyrisch daherkommen. Die Bilder, Figuren, philosophischen Fragen sind ein gigantischer lyrischer Strom, eine Sinfonie, die eben nicht nur aus Tönen besteht, aber genauso "verstanden", oder eben eher gefühlt werden muss. Wer fragt bei einem Musikstück nach dessen Sinn und Inhalt, man lässt sich einfach auf der Welle davontragen. Und bei Godard, einfach nicht nur im Herzen, sondern auch im Kopf, in einer Art freien Assoziation. Godard ist also Regisseur, Komponist, Philosoph und Dirigent in einem und das soll einmal wer von sich behaupten.

Ich weiß, das klingt jetzt für manche ein bisschen anstrengend und das ist es sicher auch, und natürlich ist nicht jeder Godardfilm, oder zum Beispiel jeder Jelinek-Roman, oder jedes andere schwer konsumierbare Kunstwerk, für das man seinen Blickwinkel ein wenig ändern muss, gelungen, das ist hier sogar noch subjektiver als sonst wo, und natürlich kann man sich sowas nicht jeden Tag geben, aber wer es von Grund auf ablehnt sich so etwas anzusehen, der ist dazu verdammt Nazikunst zu lieben, was mir sehr Leid tut, denn das bedeutet einen grob einseitigen Blick auf eine komplexe Welt zu bevorzugen, was mitunter ziemlich gefährlich werden kann.

Godard ist also auch Revolutionär, denn seine Kunst dient der Erweiterung unseres Erkenntnisrahmens und nichts wird von den Menschen heftiger abgelehnt als das.

So, jetzt haben wir die Fallstudie, danach die Theorie, jetzt müssen wir uns aber irgendwie eine Conclusio aus den Fingern saugen. Jetzt könnte es natürlich peinlich werden. Zuerst so obergescheit daherquatschen und jetzt eine Kindergartendeutung. Sicher nicht, das müsst ihr schon für euch selber machen. Ich möchte nur ein paar Dinge erwähnen, die mir aufgefallen sind.

Was ich zunächst einmal befremdlich fand, war (schon wieder) das Thema Holocaust. Ich gehöre jetzt sicher nicht zu denen, die meinen man solle "die Vergangenheit endlich ruhen lassen", ganz im Gegenteil, aber bei Godard bin ich der Meinung, dass er es dürfte, er hat sich wahrlich genug damit beschäftigt. Sein Lebensthema ist ausgeschöpft, seine Gedanken nicht mehr neu und frisch, das ganze erinnert an Micheal Jackson, der auch in seinem Jahrzehnt stecken geblieben ist. Man hat das Gefühl, das schon hundertmal gehört zu haben und noch viel schlimmer, dass es ein wenig altmodisch geworden ist, dass wenn man hier und dort ein bisschen an den Schrauben drehen würde, doch etwas ganz Interessantes herauskommen könnte, aber man geht davon aus, dass der alte Dickschädel keinerlei Kritik oder Vorschläge dulden würde. Monsieur Godard, wir haben soviele Probleme, warum nicht mal die Godard-Brille für etwas Anders benutzen.

Aber vielleicht tut er es ja, und ich kapiere es nur nicht. Deshalb meinte ich auch, dass sein Ausspruch vielleicht bei der Deutung hilft. Godard scheint durch den kritischen Blickwinkel Holocaust auf ganz bestimmte Weise konditioniert worden zu sein und überträgt seine Deutungsmuster nun auf die moderne Welt. Das Thema Islam hat seinen Platz in diesem Film, es ist allerdings viel zu vage, besteht nur aus sehr wenigen Zeichen, weil es vielleicht noch zu früh ist, darüber zu "sprechen". Der Bogen wird gespannt, die Vernetzung der Welt anhand der Kreuzfahrt widergespiegelt, von der Armut in Palästina bis zur Konsumgesellschaft Europas, die in verstörender Weise mit grobpixeligen Bildern und überforderten Mikrofonen in der Disko gefilmt werden, während der franzöische Philosoph einsam über Alain Badiou über Husserl doziert. Darüber prangt der Titel Film Socialisme, der so herzlich wenig mit dem restlichen Inhalt des Filmes zu tun zu haben scheint. Trotzdem: Eines der Symptome des theoretischen Marxismus (gleichzeitig eines der Symptome des Werkes von Gordards) ist allgegenwärtig, der absolute Verlust des Realitätsbezuges, diese endlosen Predigten, denen niemals Taten folgen.

Der Marxismus sträubt sich scheinbar davor Wirklichkeit zu werden und das obwohl seine Beobachtungen der Welt keineswegs aus der Luft gegriffen sind. Aber außer grausam entstellten Mutationen unter Lenin, Stalin, Pol Pot, Mao oder den vollkommen unprofessionell und altmodisch vermarkteten Bestrebungen einer "linkslinken" Schicht von Außenseitern, die niemand in den westlichen Industriegesellschaften ernst nimmt, konnte er sich noch nicht manifestieren.

Godards ewige Versuche den Marxismus ins breite Bewusstsein zu bringen sind ja aufgrund seiner filmischen Form schon unmöglich. Und jetzt treffen all diese Diskurse in diesem zusammengeschusterten Flickwerk von Film aufeinander, bleiben zwar unkommentiert, stellen sie aber nebeneinander, was ja schon so etwas wie eine Aussage sein kann. Oder auch nicht.

Godards Kino lebt jedenfalls, ist immer noch ein Thema und das ist gut so. Seine letzten beiden Langfilme Notre Musique und Eloge de l'Amour waren deutlicher und meiner Meinung nach auch deutlich besser, hier bei Film Socialisme hat man schon das Gefühl, dass er sich in seinen Manierismen ein wenig verfangen hat, frisch wirkt das nur im Vergleich zum restlichen Kino. Im Vergleich zu sich selbst ist das schon eher sehr unterdurchschnittlich. Aber trotzdem, von einer Katastrophe zu sprechen wäre übertrieben, zumindest aber war es einer der schwächeren Godards, die ich bisher gesehen hab. Trotzdem, es war mir eine Ehre, denn es könnte, wie immer, sein letzter gewesen sein. Und gelangweilt habe ich mich keine Sekunde.

Film Socialisme Bild 1
Film Socialisme Bild 2
Film Socialisme Bild 3
Film Socialisme Bild 4
Film Socialisme Bild 5
Film Socialisme Bild 6
Film Socialisme Bild 7
FAZIT:

Film Socialisme ist sicher nicht das frischste Werk von Jean-Luc Godard. Ist darüberhinaus nach Eloge de l'Amour und Notre Musique wieder ein Schritt weg vom Publikum. Ist schwer zu deuten, wenn überhaupt. Aber verdammt noch einmal, er ist ein wahres Kunstwerk, eine Sinfonie von Gedanken, Fantasien, Bildern, Texten, Ideologien, die hier à la Godard zubereitet wurden und unseren Kunstgaumen wieder einmal ordentlich beschäftigen werden, denn der ist ohnehin meistens unterbeschäftigt und unterfordert. Also tut's was für die Kunst, denn dann tut's ihr was für euch selbst.
Zu sehen im Filmhaus am Spittelberg.

WERTUNG: 6 von 10 Choses comme ca
TEXT © Ralph Zlabinger
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Dein Kommentar >>
Ralph | 10.02.2011 17:05
Übrigens Tal der Wölfe haben nur 10.000 gesehen. Hab mich verlesen. Sorry. Wird später ausgebessert.
>> antworten
Birgit | 10.02.2011 16:57
"Und gelangweilt habe ich mich keine Sekunde." :))))
Birgit | 10.02.2011 16:59
"Aber verdammt noch einmal, er ist ein wahres Kunstwerk.." wow!
>> antworten
Federico | 09.02.2011 00:20
Was für eine Kritik, so etwas ließt man gerne. Werde mich vielleicht doch wieder Godard widmen, obwohl ich bisher eher wenig von ihm begeistert war.
Ralph | 09.02.2011 13:59
Danke an euch alle, ihr macht mir eine Freude, da hat es sich ausgezahlt 2,5 Stunden Sonnenschein am Sonntag zu opfern. :)

@Federico: Also ich finde mit Alphaville, Pierrot le Fou und Die Verachtung kann man nichts falsch machen. Auch Notre Musique und Eloge de l'Amour waren ausgezeichnet. Dann hab ich noch ein paar weitere gesehen, die nicht ganz so interessant waren (Film Socialisme etwa)...
Federico | 09.02.2011 15:50
Deswegen schreibe ich immer Nachts ;))

Hab mit der Verachtung begonnen, dann Außer Atem und Alphaville. Haben mich, wie gesagt nur mäßig begeistert. Aber das ist jetzt auch schon über fast 6 Jahre her, wie gesagt I'll give it another try.
>> antworten
Gregor | 08.02.2011 18:46
Tolle Kritik! - Den Film habe ich zwar noch nicht gesehen, aber wie Du das Phänomen Godard beschreibst, das finde ich schon ausgesprochen treffend!

Wenn ich selbst den Unterschied zwischen Godard und anderen berühmten Regisseuren erklären müsste, würde ich wahrscheinlich sagen, dass es eine ganze Reihe genialer Regisseure gibt, Godard jedoch einfach ein Genie ist, das Filme macht.

Und dass er trotz seiner Bedeutung komerziell so erfolglos ist, das liegt, wie Du ja so schön beschreibst, sicher nicht nur am beschränkten Publikum.

Wenn jemand versucht in Hollywood Fuß zu fassen, dann ist es sicher nicht sehr geschickt, zuerst einen Filmsatire über Hollywood zu machen. Das ist natürlich konsequent, aber zugleich eben auch mal wieder schon echt penetrant.

Da ist er halt ganz der alte lustfeindliche Sozi, der überhaupt keinen Spass versteht. Und dann muss er natürlich auch noch in jedem Film mindestens einmal besonders herausstellen, was er doch für ein Oberschlaumeier ist Das war ja schon zu Nouvelle Vague-Zeiten so, wo in einer Komödie oder wo es sonst eben auch nicht passt,plötzlich ein Philosohieprofessor in einem Café sitzt und einem mal eben die Welt erklärt...
>> antworten
Mathias | 08.02.2011 18:31
Tolle Review, hat richtig Lust auf den Film gemacht!
>> antworten