OT: Les Herbes folles
EXPERIMENTALDRAMA: FRANKREICH, 2008
Regie: Alain Resnais
Darsteller: André Dussollier, Sabine Azéma, Emanuelle Devos, Mathieu Almaric, Anne Consigny
Maguerite, gutbürgerlich, kauft sich Schuhe. Dann wird ihre Handtasche gestohlen. Georges, ebenfalls gutbürgerlich, findet die Geldbörse, welche ihren Führer- und Flugschein enthält. Maguerite wirkt jedoch auf beiden Passfotos so verschieden, als ob es sich um unterschiedlichen Personen handeln würde. Georges ist fasziniert und steigert sich in eine Obsession, die etwas bizarre Züge annimmt.
KRITIK:Genug ist genug. Warum eigentlich immer nur Fast Food? Filme, die zwar in Augenblick des Geschehens durchaus Spaß machen, aber in der Erinnerung zusammenfallen wie ein Kartenhaus am Gartentisch im Mittagswind. Clash of the Titans, Iron Man, Kick Ass und wie ihr alle heißt. Formelfilme, mehr oder weniger streng nach Kochrezept bereitet. Kein wirkliches Risiko, außer vielleicht ein bisschen der fade Geschmack der Retorte, keine wirkliche Anstrengung, keine große Enttäuschung, man erwartet sich ohnehin nicht zuviel. Nur ein Geist der auf der Stelle tritt.
Wie sagen die Chinesen: "Drei Tage nichts gelesen und das Gespräch wird schal". Wie sagt Morgan Spurlock: "Ein Monat McDonalds und man wird impotent, fett und depressiv". Ein bisschen Selbstdisziplin muss schon wieder her, ein bisschen Drang nach dem Unbekannten. Wer auf dem Gipfel stehen und stolz in die Ferne blicken will, muss nun einmal den weiten, beschwerlichen Weg in Kauf nehmen. Nur um zu sehen, dass die Aussicht heute leider in einer düsteren Nebelsuppe verschwunden ist ...
Alain, was hast du nur getan? Was soll ich von deinem Film halten? Ich hatte eigentlich eine gute Zeit, aber als der Vorhang fiel, blieb dann doch nicht die erwartete Erleuchtung, sondern ein Nachgeschmack mit einem leicht banalem Aroma. Ohne jetzt das Ende spoilern zu wollen, es war einfach zu archetypisch französisch. Hat da wer zuviel Truffeaut geschaut? Und dann noch diese symbolgeschwängerten Verweise auf in alle Richtungen wucherndes Unkraut (Les Herbes folles - wörtlich übersetzt Verrückte Kräuter, was sich irgendwie mehr nach Drogen anhört) um diese archaischen Exzesse unserer gutbürgerlichen Helden zu unterstreichen.
Ich glaube, das wäre gar nicht nötig gewesen. Ich glaube sogar, das hat dem Film geschadet, denn sonst war er eigentlich wirklich, wie man es von dem immerhin schon 88-jährigen Alain Resnais gewohnt ist, erfrischend anders.
Beiden Protagonisten wohnt eine unglaublich zerstörerische Lebenssucht inne. Es ist sehr faszinierend und verstörend zugleich, Resnais Stammhauptdarstellern Dussollier und Azéma dabei zuzusehen, wie sie, um einen Sinn in ihrem verödeten Leben ringend, subversiv-surreale Töne anschlagen. Da werden Reifen aufgeschlitzt, da wird gestalkt, die Polizei aufeinander gehetzt, mitternächtliche Anrufe bei der Ehefrau getätigt, gewalttätige Drohgebärden gesetzt, die man versucht ist ernst zu nehmen.
Geschickt versteht es der Regisseur uns zu verstören, uns zu überraschen, indem diese beiden gutbürgerlichen, gebildeten, finanziell abgesicherten, in schönen Häusern lebenden Figuren, ihr zweites Gesicht zeigen, die Bestie hervorkehren, aber dennoch, niemals so weit gehen um ins Lächerliche oder Übertriebene abzurutschen. Wir Zuseher warten nur gebannt, harren dieser subtilen Bedrohung der bürgerlichen Integrität, rechnen damit, dass der Vulkan jederzeit ausbrechen könnte, wissen aber nicht ob und wann.
Und Alain Resnais inszeniert sowieso völlig gegen den Strich. Existenzialistisches Drama? Liebesfilm? Von wegen! Experimentalthriller! Frische, ehrlichere, intensivere Bilder um die Gefühle der Figuren zu verstehen und wieder nicht. Surreal anmutende Dialoge, Figuren, die sich genau nicht so verhalten, wie wir es erwarten würden. Der Höhepunkt ist wie so oft eine Plansequenz, wo André Dussolliers Kinder zu Besuch kommen und der ganze Abend in einer Aufnahme gezeigt wird. Besser kann man Entfremdung und den Verlust familiärer Bande hin zur Beiläufigkeit nicht inszenieren. Vor so viel poetischer Kunstfertigkeit kann man sich nur verbeugen.
Daher macht das etwas enttäuschende Ende, von einer Auflösung kann man eigentlich nicht sprechen, eher von dem Rückzug von einer Traumebene in die nächste, nicht so viel aus. Die getankte frische Luft, die hämmernden Schläfen, der warme Schweiß auf der Stirn und am Rücken. Ein Gewinn war dieser Ausflug allemal.
Für alle, die wieder einmal genug vom alltäglichen, inhaltlich wie formal langweiligen und oft dilettantischen Einheitsbrei haben, bietet "Vorsicht Sehnsucht" in bester (Post-) Nouvelle Vague Tradition perfekt inszenierte, kraftvolle und befremdliche Filmminuten, die so spannend sind wie eine Reise in ein fremdes Land. Da kann man sogar über das nicht ganz gelungene Ende hinwegsehen.