OT: Un chien andalou
EXPERIMENTELLER KURZFILM: F, 1929
Regie: Luis Buñuel
Darsteller: Pierre Batcheff, Luis Buñuel, Simone Mareuil, Salvador Dalí
(Der 17 minütige Kurzfilm gleicht am ehestem einem ungeordneten und ungefilterten "Stream of Consciousness" und verweigert sich somit jedweden narrativen Mustern. Von einer "Handlung" im konventionellen Sinne kann hier also gar keine Rede sein.)
Was soll man zu einem Jahrhundertfilm, wie Luis Buñuels EIN ANDALUSISCHER HUND eigentlich noch großartig sagen? So schreibt z.B. der Filmkritiker Björn Last auf mitternachtskino.de: "Filmisch, sowie surrealistisch revolutionär, ist Buñuels "andalusischer Hund" der bekannteste und beste Kurzfilm aller Zeiten. Siebzehn Minuten pure, skurrile Energie, sinnlose Gedankenfragmente, die in einem gigantischen Trip über Gewalt und Sex, und somit über Menschlichkeit und durch die Gesellschaft bestimmte Unmenschlichkeit, explodieren."
Nun, dem ersten Satz kann ich ohne jede Einschränkung zustimmen. Ja, ich möchte sogar sagen, dass Björn Last in seinem überschwänglichen Lob sogar noch untertrieben hat. Denn EIN ANDALUSISCHER HUND ist nicht nur "der bekannteste und beste Kurzfilm aller Zeiten", sondern zugleich auch der einflussreichste Kurzfilm aller Zeiten. Ja, Buñuels Meisterwerk ist sogar einer der einflussreichsten Filme, jedweder Art und jedweden Genres, aller Zeiten. Aber ist der Film auch ein "Trip über Gewalt und Sex, und somit über Menschlichkeit und durch die Gesellschaft bestimmte Unmenschlichkeit"?
Das wahre Geheimnis des Films steckt bereits in dessen Titel: "EIN ANDALUSISCHER HUND"! Was assoziiert man denn mit einem "andalusischen Hund"? - Also ich habe insgesamt bereits mehrere Jahre in Spanien verbracht, aber mit einem "andalusischen Hund" assoziiere ich trotzdem nur genau eine Sache: nämlich rein gar nichts! - Und welche Rolle spielt der "andalusische Hund" denn in dem Film EIN ANDALUSISCHER HUND? - Nun, ich würde sagen, er taucht da gar nicht auf! - Also ist der ganze geheime Sinn von EIN ANDALUSISCHER HUND die Abwesenheit von Sinn, auch bekannt als Unsinn!
So beschreibt Luis Buñuel in seiner, von Jean-Claude Carrière aufgezeichneten, Autobiografie "Mein letzter Seufzer" den Entstehungsprozesse des Films folgendermaßen:
"Dieser Film ging aus der Begegnung zweier Träume hervor. Dalí hatte mich eingeladen, ein paar Tage bei ihm in Figueras zu verbringen, und als ich dort ankam, erzählte ich ihm, dass ich kurz zuvor geträumt hatte, wie eine lang gezogene Wolke den Mond durchschnitt und wie eine Rasierklinge ein Auge aufschlitzte. Er erzählte mir seinerseits, dass er in der vorangehenden Nacht im Traum eine Hand voll Ameisen gesehen habe, und fügte hinzu: "Und wenn wir daraus einen Film machten?"
Ich wusste zunächst nicht, was ich von dem Vorschlag halten sollte, aber schon sehr bald gingen wir in Figueras an die Arbeit.
Das Drehbuch wurde innerhalb von einer Woche nach einer sehr einfachen Regel geschrieben, für die wir uns in voller Überzeugung entschieden hatten: keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe; die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum."
Diese Technik wurde allerdings nicht von Buñuel und Dalí erfunden. Das "automatische Schreiben" wurde 1889 vom französischen Psychotherapeuten Pierre Janet als Therapieform entwickelt und in den 1920er Jahren von den Surrealisten, die ja ursprünglich eine reine Gruppe von avantgardistischen Schriftstellern waren, adaptiert. Doch es waren Buñuel und Dalí, die diese Technik zum ersten Mal beim Schreiben eines Drehbuchs anwandten, und die auf diese Weise den ersten wahren surrealistischen Film in der Geschichte des Kinos schufen.
Es ging Buñuel und Dalí eben genau darum: "die Tore des Irrationalen weit zu öffnen"! Deshalb lacht Luis Buñuels Sohn Juan-Luis in einem Interview auf der US-DVD von transflux films von UN CHIEN ANDALOU auch über all die unzähligen psychologischen und religions- und kulturkritischen Interpretationen, die der Film bereits erfahren hat. Denn ihm zufolge haben sein Vater und Dalí alle Ideen des Films auf rein spielerische Weise im Ping-Pong-Verfahren erarbeitet. Das bestätigt auch Luis Buñuels eigene Aussage, dass sie beabsichtigten "keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe".
Buñuel zufolge kommt das Kino auf diese Weise sogar überhaupt erst seiner wahren Bestimmung nach. In seiner Schrift "Geheimnis des Kinos" schreibt er: "Das essentielle Element eines jeden Kunstwerks ist ein Geheimnis, und für gewöhnlich fehlt dieses in Filmen." Es geht in EIN ANDALUSISCHER HUND also darum "die Tore des Irrationalen weit zu öffnen", um auf "das Geheimnis" zu stoßen und dieses somit in die Kunstform des Films einfließen zu lassen.
Natürlich bringt die Technik des automatischen Schreibens alles Mögliche an Licht: (verdrängte) Urängste, (unterdrücktes) sexuelles Begehren, (ein möglicherweise gestörtes, kritisches oder auch einfach nur ambivalentes Verhältnis zur) Religion usw. Aber all diese Dinge einfach unreflektiert und ungefiltert sichtbar zu machen ist eben etwas völlig anderes, als jedwede Form einer bewussten Gesellschaftskritik. Und deshalb zeigt jeder Kritiker, der genau aufzuschlüsseln versucht, worin die genaue Bedeutung von EIN ANDALUSISCHER HUND liegt, letzten Endes nur eine einzige Sache: nämlich, dass er kein Stück verstanden hat, dass es hier kein Stück zu verstehen gibt!
Mit diesem radikalen Ansatz waren Buñuel und Dalí ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. Tatsächlich sollte es fast ein halbes Jahrhundert dauern, bis Filmemacher wie Alejandro Jodorowsky und David Lynch die Impulse, die EIN ANDALUSISCHER HUND gesetzt hatte, erneut aufgriffen und somit ebenfalls Werke schufen, die auch noch in ihrer Zeit absolut radikal avantgardistisch waren.
Aber der tatsächliche Einfluss des Films reicht noch wesentlich weiter. So begründete der Film auch das "Kino des Schocks". Und als ein gewisser Lucio Fulci im Jahre 1982 mit THE NEW YORK RIPPER einen Film drehte, in dem eine ähnliche Augenaufschlitzszene zu sehen ist, war dies noch immer so schockierend, dass die (ungekürzte) DVD dieses Films auch noch im Jahre 2000 in Bundesdeutschland beschlagnahmt wurde.
Doch auch damit ist der Einfluss von EIN ANDALUSISCHER HUND noch lange nicht erschöpft. So findet man surreale Einsprengsel sogar in den Hollywoodfilmen von Alfred Hitchcock und bei diversen anderen Filmemachern, die nicht per se als surreal gelten. Ich denke da z.B. an den Krötenregen in Paul Thomas Andersons gesellschaftskritischem Drama MAGNOLIA (1999). Und sehr richtig weist Buñuels Sohn in dem oben erwähnten Interview auch darauf hin, dass die Filmsprache des Surrealismus inzwischen sogar in der Werbung allgegenwärtig ist, da es der heute nicht mehr um eine reine Produktinformation, sondern eben genau um die Vermittlung eines "Geheimnisses" geht.
Und selbst da, wo der Einfluss von EIN ANDALUSISCHER HUND offensichtlich fehlt, zeigt sich die ungebrochene Relevanz dieses zeitloses Meisterwerks. So ist Christopher Nolans INCEPTION genau deshalb ein vollkommen überbewerteter, steriler Blockbuster ohne Herz und ohne Seele, weil er uns gerade aufgrund seiner rein rationalen Konstruktion so rein gar nichts über das Unterbewusstsein, geschweige denn ein tieferes Geheimnis verrät. Und dieses grundlegende Manko kann auch durch keinen noch so übersteigerten technischen Schnickschnack wettgemacht werden. In Wahrheit ist es nämlich genau umgekehrt: Die berühmteste Szene in EIN ANDALUSISCHER HUND funktioniert auch heute noch, obwohl sie technisch so schlecht getrickst ist, allein aufgrund ihrer rein visuellen und poetischen Kraft.
Falls es tatsächlich diesen einen Film geben sollte, den wirklich jeder Filmliebhaber mindestens einmal in seinem Leben gesehen haben sollte, so kann dies nur EIN ANDALUSISCHER HUND sein!
EIN ANDALUSISCHER HUND ist soeben zusammen mit Buñuels kaum weniger bedeutsamen Film DAS GOLDENE ZEITALTER von AL!VE und Pierrot le Fou erstmalig in Deutschland veröffentlicht worden.