OT: Belle de jour
DRAMA/EROTIK: FRANKREICH/ITAL, 1967
Regie: Luis Buñuel
Darsteller: Pierre Clémenti, Catherine Deneuve, Geneviève Page, Michel Piccoli, Jean Sorel
Die kühle Sévérine (Catherine Deneuve) ist mit dem angesehenen Chirurgen Pierre (Jean Sorel) verheiratet. Doch obwohl diese Ehe nun bereits ein Jahr lang wärt, weigert sie sich weiterhin mit ihrem Mann zu schlafen. Dieser erträgt die scheinbare Frigidität seiner Frau mit fast stoischer Ruhe. Dabei ahnt Pierre jedoch nicht, dass Sévérine wilde masochistischen Träume hat, in denen sie z. B. unter Anweisung ihres Mannes ausgepeitscht und vergewaltigt wird.
Da ihr gleichermaßen herzensguter und grundsolider, wie auch langweiliger und zum Workaholic tendierender Chirurgen-Ehemann Sévérines geheime Phantasien sicherlich niemals in der Realität erfüllen wird, sehnt diese sich danach, ihre Träume auf andere Weise auszuleben. Ihre innere Suche treibt sie in das Bordell von Madame Anais, in dem ansonsten brave Ehefrauen ihre Haushaltskasse als Teilzeitprostituierte aufbessern. Da Sévérine dort nur tagsüber von ihrem Mann unbemerkt arbeiten kann, gibt Madame Anais ihr den Namen BELLE DE JOUR - SCHÖNE DES TAGES...
Der aus dem Jahre 1967 stammende BELLE DE JOUR war nach dem drei Jahre zuvor entstandenem TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE Luis Buñuels zweiter französischer Film nach einer über 30 jährigen Pause. Zuvor hatte er überwiegend in Mexiko gearbeitet, da ihm sein ehemaliger Freund und Mitstreiter Salvador Dalí durch die unzutreffende Bezeichnung Buñuels als Kommunist eine Karriere in den USA verbaut hatte. Das ist umso unglaublicher, wenn man bedenkt, dass die beiden (mit den ebenfalls in Frankreich gedrehten) EIN ANDALUSISCHER HUND (1929) und DAS GOLDENE ZEITALTER (1930) zuvor gemeinsam das Moderne Kino revolutioniert hatten.
Und während Luis Buñuel in Mexiko oft mit mehr kommerziellen und weniger avantgardistischen Arbeiten beschäftigt war, so gewährte man ihm nun in Frankreich wieder eine völlige kreative Freiheit. Außerdem ging der spanische Regisseur dort mit dem Franzosen Jean-Claude Carrière als Koautor eine neue kreative Partnerschaft ein, welche sicherlich ebenfalls entscheidend dazu beitrug, dass sein überwiegend in Frankreich entstandenes Spätwerk eine einzige Abfolge von immer größeren Meisterwerken wurde.
Dass selbst der geniale Buñuel erst durch den kreativen Austausch mit anderen zu seiner persönlichen Höchstform auflief, verdeutlichten bereits seine ersten beiden Filme. So entstand der berühmt-berüchtigte EIN ANDALUSISCHER HUND aus dem freien Assoziationsfluss von Buñuel und Dalí. Doch schon bei deren Folgeprojekt DAS GOLDENE ZEITALTER wollte der kreative Gedankenaustausch nicht mehr so recht funktionieren. Und so ist dieser zweite Meilenstein des Surrealen Kinos, trotz vieler unvergesslicher Szenen und trotz seiner knappen Laufzeit von nur einer guten Stunde, leider auch oftmals ein wenig langatmig geworden.
Doch mit Jean-Claude Carrière verstand sich der Meister auf Anhieb blendend. Und dem Franzosen zufolge gab dabei die gemeinsame Liebe zum Wein den entscheidenden Ausschlag, weshalb ihn Buñuel überhaupt erst engagiert hatte...
So gibt es vielerlei Gründe, weshalb man BELLE DE JOUR als eine Art von Luis Buñuels Comeback zu alter surrealer Hochform bezeichnen kann. Dabei ist dieser Film insbesondere im direkten Vergleich zu seinem brachialen EIN ANDALUSISCHER HUND erstaunlich subtil ausgefallen.
In BELLE DE JOUR gibt es eine relativ klar nachvollziehbare Handlung, die sich viel Zeit zur genauen Charakterisierung aller seiner Protagonisten nimmt. Surreal im engeren Sinne erscheinen hier fast nur Sévérines Träume. Doch dies entspricht weniger einer altersbedingten Milde Buñuels, als vielmehr einer sehr raffinierten und gezielten Einsetzung seiner Mittel, welche die durch die Arbeit an Dutzenden von Filmen erworbene Meisterschaft des Regisseurs zeigt.
Denn gerade die Tatsache, dass diese Träume z.B. optisch keineswegs vom Rest der Handlung abgesetzt, sondern sogar mittels eines sehr leicht erscheinenden Schnitts auf sehr elegante Weise in diese integriert sind, macht es spätestens am Ende des Films unmöglich klar zu entscheiden, was nun eigentlich ein Traum, die Visualisierung eines Wunsches oder schlicht die banale Alltagsrealität ist.
Dieses Prinzip, dass uns der Regisseur scheinbar alles und letztendlich doch nichts verrät, macht auch den besonderen Reiz der berühmtesten Szene von BELLE DE JOUR aus:
Als ein asiatischer Bordellbesucher den dort arbeitenden Damen eine kleines Kästchen zeigt, verkündet nur ein ungewöhnlicher Summton beim Öffnen davon, dass diese einen ungewöhnlichen Inhalt haben muss. Ansonsten sehen wir nur anhand der überraschten und ablehnenden Reaktion einer von Sévérines Arbeitskolleginnen, dass dieser Asiate anscheinend Dinge mag, die über das ansonsten Übliche hinausgehen.
Da ist es umso bezeichnender, dass ausgerechnet die bis dahin noch sehr zurückhaltende und unsichere Sévérine gleich vom Inhalt dieser geheimnisvollen Box ebenso amüsiert wie angetan erscheint und deshalb gerade diesen Kunden sofort in ihre Arme schließt. Doch was sich in dieser Schatulle nun "wirklich" verbirgt, das erfahren wir nie. Das ist für Buñuel auch völlig unerheblich. Und so antwortete er auf die oft gestellte Frage danach, was nun der genaue Inhalt des Kästchens sei, einfach mit einem lapidaren "Was Sie wollen."
Äußerst bemerkenswert an BELLE DE JOUR ist auch die Tatsache, dass dies einer der ersten Filme überhaupt ist, der nicht nur die Phantasien einer masochistischen Frau zeigt, sondern diese auch völlig unbewertet lässt. Zwar wird Sévérine in ihren Träumen häufiger von ihrem Mann bestraft. Doch erscheint dies mehr als ein Ausdruck ihres schlechten Gewissens gegenüber ihrem sie als frigide betrachtenden Ehemann, als eine Form von einer wie auch immer moralisch gerechtfertigten Strafe. Und da Sévérine als ganz offensichtliche Masochistin gerade diese Strafen besonders genießt, bleiben gerade auch diese Träume selbst bei wiederholter Betrachtung stets äußerst ambivalent.
In jedem Fall erscheint in BELLE DE JOUR weniger Sévérines "perverse" Neigung als das eigentliche Problem, sondern ein gesellschaftliches Umfeld, welches das Ausleben dieser Neigungen nur sehr beschränkt ermöglicht. In dieser Beziehung knüpft der Film gewissermaßen an Mario Bavas vier Jahre zuvor entstandenen DER DÄMON UND DIE JUNGFRAU an.
Doch während Bava seine Darstellung einer leidenschaftlichen sadomasochistischen Beziehung noch als eine altmodische Geistergeschichte getarnt hatte, siedelt Luis Buñuel die Handlung seines Films direkt im Paris der damaligen Gegenwart an. Dazu passend erscheint das Ausleben der geheimen Wünsche der Protagonisten zwar nach wie vor äußerst schwer, ist jedoch im Gegensatz zu dem bei Bava Gezeigten, nun wenigstens nicht mehr vollkommen unmöglich.
Luis Buñuels BELLE DE JOUR ist einer dieser äußerst seltenen Filme, die zunächst relativ schlicht erscheinen, die aber zugleich eine seltsame Faszination beim Betrachter hervorrufen und dessen letztendliches Geheimnis selbst bei wiederholter Betrachtung niemals vollständig ergründet werden kann. Dieser Film ist ein reifes Spätwerk eines der großen Visionäre des Kinos und ein ganz großes Werk des Surrealismus. Doch anstatt nur die Borniertheit des Bürgertums und die enge Moral der Kirche zu kritisieren, zeigt Luis Buñuel in BELLE DE JOUR auch, dass er selbst der anhand einer masochistischen Protagonistin gezeigten Andersartigkeit durchaus seinen Platz zugesteht.