OT: Taiyo no hakaba
DRAMA: JAPAN, 1960
Regie: Nagisa Ôshima
Darsteller: Masahiko Tsugawa, Kayoko Honoo, Isao Sasaki, Fumio Watanabe
Ein völlig unverklärter, messerscharfer Blick auf junge Leute in den Slums einer japanischen Hafenstadt in den 1960ern -
KRITIK:In der Zeit von Herbst 2009 bis Herbst 2011 wird das österreichische Label Polyfilm eine Reihe von 22 Filmen unter dem Banner "Japanische Meisterregisseure" veröffentlichen. Auch wenn es mir zufällt, den Auftakt dieser Serie zu kommentieren, handelt es sich bei den Meisterregisseuren ausnahmsweise nicht um Leute wie Norifumi Suzuki, Teruoo Ishii, Takashi Shimizu oder Kiyoshi Kurosawa, sondern um die seriöseren, aber phasenweise nicht minder provokanten Herren Nagisa Ôshima, Yoshitaro Nomura, Keisuke Kinoshita und Yasujirô Ozu. Von diesen Künstlern werden thematisch sehr breit gefächerte Werke vorgestellt, die in einem Zeitraum von 1935 bis 1978 entstanden sind. Angesprochen dürfen sich bei diesem Programm vor allem reife Cineasten und Art"häusler" fühlen, aber auch Filminteressierte, die sich in die Frühzeit des asiatischen Kinos begeben wollen.
Doch genug der einleitenden Worte, kommen wir zum Film: Den Anfang macht Nagisa Ôshima mit DAS GRAB DER SONNE aus dem Jahr 1960. Der Name des Regisseurs steht ja einerseits für anspruchsvolle Filmkunst, andererseits aber auch für eine bisweilen wenig zimperliche Ausdrucksweise. Sein berühmtestes und kontroversestes Werk IM REICH DER SINNE - eines, das ich persönlich trotz seiner Ejakulationen, graphischen Sexszenen und den genitalen Kunststückchen mit Hühnereiern als richtig bedeutenden Film schätze - ist Beleg dafür.
Aber auch dieses Frühwerk hier - obgleich in jedem Aspekt anders geartet - ist ein solcher. Für sein Alter nennt DAS GRAB DER SONNE soziale Missstände und die Perspektivlosigkeit in den untersten Sozialschichten ziemlich direkt beim Namen; fällt aber zu keiner Zeit in die Skandalträchtigkeit des REICH DER SINNE. Dennoch riecht man den Schweiß, den Unrat und die Verzweiflung in diesen Slums und sieht wenig Hoffnung im GRAB DER SONNE.
Ganz unten ist eben jeder sich selbst der Nächste. Verrat und Verbrechen sind an der Tagesordnung und fürs Überleben unentbehrlich. Zu diesem Schluss kommt Ôshima, nachdem er trotz einer Spielzeit von nur 84 Minuten einen umfassenden Einblick in die Leben einiger Slumsbewohner genommen hat:
Da wäre die junge, hübsche und durch und durch opportunistische Hanako, die eine illegale Blutbank unterhält. Oder ein Kriegsveteran, der vergangenen Zeiten nachtrauert und nun seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf gefälschter Ausweispapiere bestreitet. Dann natürlich Takeshi, der einzige Charakter, der sich so etwas wie Gefühl und Gewissen bewahrt hat, aber sein Schicksal besiegelt, als er sich der kriminellen Zuhälterbande von Shin anschließt.
Schon gleich nach dem Vorspann stecken sämtliche Protagonisten des Films in einem Sumpf aus Kriminalität, Prostitution und Gewalt fest und zwar sehr weit vom rettenden Ufer entfernt. Dabei verzichtet Ôshima auf jegliche Outlawromantik und zeigt die Unterschicht völlig unverklärt. Dabei schafft Ôshima mit kraftvoller Bildersprache und vielen starken Szenen bleibende Eindrücke beim Zuschauer, wobei die überwältigende Schlusssequenz sicherlich den größten hinterlässt.
Bemerkenswert ist auch die grandiose, melancholische Filmmusik von Manabe Riichiro. Auch wenn der Film - gemessen an seinem Entstehungsjahr - den Finger ziemlich tief in die sozialen Wunden legt und sich vieles im GRAB DER SONNE um Sex und Gewalt dreht, muss an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass weder das eine noch das andere richtig explizit wird. Es gibt allenfalls mal kurze verschämte Blicke auf ein Liebesspiel oder Frauenrücken und keine Cumshots wie sie der Regisseur etwa im REICH DER SINNE präsentiert hat. Wer bei Erwähnung von Bandenkriegen blutige Shootouts erwartet, sollte besser gleich wieder zu den Yakuza-Flicks von Meister Miike greifen.
DAS GRAB DER SONNE ist Milieustudie und Sozialdrama und in dieser Hinsicht auf ein anderes Publikum ausgerichtet. Letzteres darf sich hier zwar auf unverblümte Beobachtungen freuen, sollte aber auch darauf gefasst sein, dass der Film eben fünfzig Jahre alt ist und nicht nur aufgrund der geänderten politischen Verhältnissen in Japan nicht mehr ganz up to date ist.
DAS GRAB DER SONNE ist ein Frühwerk jenes Filmemachers, der mit seinem späteren IM REICH DER SINNE für Aufsehen, aber auch für Skandale sorgen konnte. Diese Arbeit Ôshimas ist jedoch völlig anders gelagert; obwohl sie seinerzeit sicherlich auch eine gewisse Brisanz in sich geborgen hat. Auch wenn diese Milieustudie kraftvoll bebildert und völlig unverklärt auf die Unterschicht blickt, hat sie dennoch ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Von daher wirkt sie manchmal antiquiert, obwohl die Problematik, die sie anspricht, auch heute nicht aus der Welt geschafft ist. Für reife und interessierte Cineasten aus dem Arthaus-Dunstkreis ist DAS GRAB DER SONNE aber unbedingt sehenswert; nicht nur weil der Film ein gutes Beispiel für ein frühes, ausdrucksstarkes, kritisches Kino made in Japan darstellt.