THRILLER/DRAMA: MEX, 2010
Regie: Cary Fukunaga
Darsteller: Paulina Gaitan, Edgar Flores, Kristian Ferrer, Diana Garcia
Sie sind auf der Flucht: Er, Casper, weil er seinen Boss bei der "Mara Salvatrucha", einer der gefürchtetsten Straßengangs Mexikos, erschlagen hat. Sie, Sayra, weil sie von einem besseren Leben in den "Estades Unidos", also den USA, träumt. Als blinde Passagiere auf einem Güterzug in Richtung amerikanische Grenze kommen sie sich näher - doch die Killer der Mara Salvatrucha bleiben ihnen dicht auf den Fersen …
KRITIK:Er (so laut, dass der halbe Kinosaal mithören kann): "Ich hoffe, der Film ist nicht zu arg für dich, Schatzi. Es geht um südamerikanische Gangs."
Sie (genervt): "Ja, aber wie heißt der Film?"
Er:"Moment ..." (schaut auf die Kinokarte) "Nombre."
Sie: "Na hoffentlich is des wos Gscheits?!"
Zu meiner großen Verwunderung habe ich an diesem wohlig-warmen Kinoabend in der Millennium-City keine weiteren Kommentare, Störgeräusche oder Unmutsäußerungen aus der Reihe hinter mir vernommen. Was beweist, dass der als Gang-Thriller vermarktete Film des mexikanischen Regisseurs Cary Fukunaga auch bei - vorsichtig ausgedrückt - eher peripher Filminteressierten funktioniert.
Spannend ist er ja auch. Und gut gespielt. Hübsche Bilder hat er, und stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen. Die Geschichte ist "dramatisch", "hart" und "kompromisslos", aber auch "abenteuerlich" und "leidenschaftlich", wenn's drauf ankommt. Wie geschaffen für den urbanen Bildungsbürger, der über gewöhnliche Actionfilme die Nase rümpft, aber trotzdem hin und wieder spannend unterhalten werden möchte. Mit "Anspruch" und "Tiefgang", selbstverständlich.
Lest ihr da zwischen den Zeilen einen leicht verächtlichen Unterton raus? Nicht, dass mich SIN NOMBRE gelangweilt oder geärgert hätte, no, no. Aber die Unentschlossenheit, mit der der Film zwischen Flüchtlingsdrama, Gang-Thriller und angedeuteter Lovestory pendelt, hat etwas - ja, unentschlossenes eben.
Außerdem unterstelle ich eiskalte Berechnung: Denn anders als bei der lateinamerikanischen Filmwelle der letzten Jahre, die ihr Heil in einem knochenharten Realismus suchte (siehe Tropa de Elite, Perro come Perro, Buenos Aires 1977, um nur einige zu nennen) fährt SIN NOMBRE einen bemerkenswerten Kuschelkurs: Bloß nicht zuviel Gewalt, bloß keine ungeschminkten Blicke aufs soziale Elend, am besten alles in filmische Watte packen, aufhübschen, digital nachkolorieren, mit einem gefälligen Latino-Soundtrack unterlegen. Der Erfolg - 11 Auszeichnungen auf zehn Festivals - gibt dem Film wohl recht. Aber innovativ oder auch nur mutig sieht anders aus …
Auch wenn ich ein bissl rummeckern muss: Im Grunde ist SIN NOMBRE ein gut gemeintes und gut gemachtes Drama über Menschen auf der Flucht. Die Vermarktung als Gang-Thriller in Tradition von CITY OF GOD mag irreführend sein. Auf der Habenseite gibt’s eine reduzierte, aber spannende Geschichte, einprägsame Bilder und einige hochdramatische Momente, auf der Sollseite leider ein Übermaß an berechnender Arthouse-Gefälligkeit. Wer Alejandro González Iñárritu für den größten lebenden Filmemacher hält, wird gewiss nicht enttäuscht sein.