Ein Filmtipps-Special auf den Spuren einer gespaltenen Persönlichkeit
Robert Stevensons lesenswerte Geschichte "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde" gehört sicher zu den meistverfilmten Horrorerzählungen überhaupt. Aufgrund ihrer Kürze von rund 40 Seiten lässt sie sich leicht in wenigen Minuten zusammenfassend erzählen, und so wundert es nicht, dass die imdb die erste Verfilmung bereits auf 1908 datiert, also einer Zeit, in der Filme noch auf Jahrmärkten gezeigt wurden und selten länger als eine Viertelstunde dauerten.
Andererseits lässt die Geschichte viel Raum für Fantasie und Spekulation. So muss sich der Leser Gedanken machen, worin die verbotenen Freuden bestehen, die Dr. Jekylls Alter Ego Mr. Hyde nächtens im Londoner Nebel erlebt. Auf diese Weise können Drehbuchautoren Stevensons Skizze nach Belieben ausmalen und damit in jede gewünschte Richtung ausschmücken. Maßstabsetzend ist dies etwas Rouben Mamoulians Verfilmung von 1931 gelungen, an der sich bis heute jede Neuverfilmung messen lassen muss.
Auch Hammer-Films, die kleine englische Produktionsgesellschaft, die mit der Neuverfilmung von Frankenstein 1957 das große Tabu brach, klassische Geschöpfe der Nacht aus ihrer Schwarz-Weiß-Welt zu befreien und sie in Farbe zu präsentieren, wagte sich zweimal an diesen Klassiker. Und wie bei den Erfolgsreihen Dracula und Frankenstein wollte man sich von den Schatten der großen Vorbilder lösen und vertraute darauf, einen eigenen Weg zu finden.
Damit öffnet sich der Vorhang für eine Zeitreise in das London des auslaufenden 19. Jahrhunderts. Und wir blicken in die Gesichter einer gespaltenen Persönlichkeit:
(OT: The Two Faces of Dr. Jekyll, 1960)
Regie: Terence Fisher, Darsteller: Paul Massie, Dawn Addams, Christopher Lee
Dr. Jekyll führt in London ein Leben für die Forschung und bemerkt nicht, dass seine lebenslustige, aber frustrierte Frau inzwischen mit seinem Freund ein Verhältnis begonnen hat. Als Jekyll sich das von ihm entwickelte Serum injiziert, wird aus dem unscheinbaren Arzt ein vollmundiger Draufgänger und Playboy, der sich unerkannt an seine eigene Frau ranmacht...
Das intelligente Drehbuch vertauscht überraschenderweise die äußeren Erscheinungen, die bislang dem Charakter entsprachen. War der noble Dr. Jekyll üblicherweise der gutaussehende Gentleman, so ist er hier verlottert und nur an seiner Arbeit, nicht aber an seiner Frau und auch nicht an seinem Äußeren interessiert. Dagegen ist gewalttätige Mr. Hyde, seit jeher das Monster der Geschichte, diesmal der aus dem Ei gepellte Gigolo.
Überhaupt ist Hyde, sonst einfach nur das Tier, das herausgelassen wird, diesmal viel mehr in der Lage, die Richtung der Geschichte zu bestimmen als bislang. Nachdem er den Ehebruch seiner Frau bemerkt, wird ihm bewusst, dass er als Dr. Jekyll seiner Frau niemals das Leben bieten kann, das sie sucht. Lust, Rausch, Abenteuer, Gefahr, all das kann er ihr nicht bieten, und genau das treibt seine Frau in die Arme seines Freundes. Der wiederum bemerkt sehr schnell, dass er seine Geliebte vielleicht an den verlieren wird, der das Leben noch exzessiver lebt als er – an Mr. Hyde.
Mr. Hyde versucht, seinen Freund auszutoben, ihn finanziell zu ruinieren und führt ihn zu Wettspielen und in Opiumhöhlen. Überhaupt zeigt SCHLAG 12 IN LONDON Londons Halbwelt von seiner farbenprächtigsten Seite: Im plüschigen Nachtclub Sphinx sorgen Can-Can-Sängerinnen für Stimmung, Prostituierten in Corsagen, Netzstrümpfen und Federboas suchen ihre Kunden, und zum Höhepunkt tanzt eine exotische Tänzerin lasziv mit einer Python. Londons Halbwelt ist die Welt Mr. Hydes – außen schön, innen verkommen. Regisseur Terence Fisher zelebriert diese Analogie fast bis zur Schmerzgrenze.
Wer aber den sanften Grusel sucht, wird von SCHLAG 12 IN LONDON enttäuscht. Dazu ist Fishers Film viel zu schön und vor allem auch zu hell. Weder das Drehbuch noch Fishers Regie betonen den Horror der Geschichte, sondern konzentrieren sich eher auf eine fast versinnbildlichte, psychoanalytische Betrachtung der viktorianischen Gesellschaft. Daher ist gerade das Finale ein Verrat an der eigenen Linie und stößt aus heutiger Sicht eher moralinsauer auf, wenn er so tut, als könne man die Büchse der Pandora wieder schließen. Der Film denkt seinen interessanten Ansatz leider nicht in letzter Konsequenz zu ende, sondern löst ihn der Zeit angepasst auf.
Hammers erste Jekyll-Verfilmung interpretiert die bekannte Geschichte in einer bis dato unbekannte Richtung. Sie ist dabei aber weniger ein Horrorfilm als ein wollüstig inszeniertes Sittengemälde des viktorianischen England, üppig ausgestattet, mit geschliffenen Dialogen und einer großen Lust am Zeigen. Schon wenige Jahre später wirkte dieser Film jedoch wie ein schwerfälliger, unpassender Dinosaurier aus einer längst vergangenen Zeit. Hammer hatte allen Grund, elf Jahre später noch einmal Stevensons Geschichte auf den Stand der Zeit zu bringen.
GB, 1971
Regie: Roy Ward Baker, Darsteller: Ralph Bates, Martine Beswick, Susan Broderick
Dr. Jekyll bekommt von seinem Lehrmeister den Rat, sich nicht zu sehr mit kraftraubenden, endlosen Studien, sondern lieber mit dem Leben zu beschäftigen, da sonst sein Tod schneller als sein Ruhm folgen würde. Sein Schüler befolgt den Rat, aber anders als gedacht. Er sucht mittels weiblicher Hormone (!) nach dem ewigen Leben. Das Serum wirkt, nur wird Jekyll nicht unsterblich, sondern zu einer Frau. Als Frau findet er sehr schnell Gefallen an dem neuen Körper – und da es Nachschub an weiblichen Hormonen bedarf, um die Wandlung aufrecht zu erhalten, wird er bzw. sie zum Todesengel der Londoner Prostituierten ...
… und das muss man dem Film einfach mal lassen, er hat damit die Welt mal eben um eine sehr erstaunliche Theorie bereichert, wer der geheimnisvolle Jack the Ripper gewesen sein könnte – und zugleich eine daraus folgende, durchaus nachvollziehbare Erklärung geliefert, warum man ihn niemals gefasst hat. Dabei liegt die Verbindung zwischen Stevensons Geschichte und den Ripper-Morden zeitlich so nah beieinander, dass man sich nur wundern kann, warum die Londoner Serienmorde und die phantastische Geschichte Stevensons nicht schon früher verquickt wurden.
Die Idee, Jekyll und Hyde zudem nicht in Schön und Hässlich, sondern in Mann und Frau aufzuteilen, ist mindestens ebenso abstrus wie genial. Hier hat man den Geschlechterkampf geradezu ultimativ auf eine Person konzentriert. Und auch die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Sowohl Jekyll als auch Hyde töten Frauen – nur mit dem Unterschied, dass Jekyll sich die Finger zunächst nicht schmutzig macht, sondern im Namen der Forschung umbringen lässt. Übrigens vermischt hier das Drehbuch gleich den nächsten Skandal der englischen Kriminalgeschichte: Burke und Hare.
Aber halt, der durchschnittliche Kinozuschauer, der seine hartverdienten Kröten für 90 Minuten Hammer-Unterhaltung abdrückte, wollte nun sicher keine Nachhilfe in englischer Kriminalistik und postfreud'scher Psychoanalytik, sondern – tja – schlicht einen Vorwand haben, ein kurzen Blick auf ein paar Titten und etwas Blut zu erhaschen. Und diese Wünsche erfüllt Ms. Hyde sicher eher Mr. Hyde elf Jahre zuvor. Ms. Hyde ertastet ihre Brust, leckt den Brandy lasziv aus dem Glas, steckt das Messer in das Strumpfband und macht in jeder Situation eine – ähem – gute Figur. Doch so schmierig das auf den ersten Blick klingt, das alles ist, wie bei Hammer üblich, dezent und mit Klasse und Stil gefilmt.
Jekylls zweites Gesicht ist sicher das schönere, und abgesehen davon vermutlich der beste Hammer-Film, den keiner kennt. DR. JEKYLL & SISTER HYDE ist aber deutlich düsterer als sein Vorgänger. Und auch wenn er nicht so toll ausgestattet ist, so sorgt doch Roy Ward Bakers optischer Einfallsreichtum für manch denkwürdige Einstellung. Das Monster erscheint, als Fratze in gesprungenen Spiegeln, farbigen Fenstern und Schattenspielen. Und die Verwandlung von Jekyll in Ms. Hyde ist genauso simpel wie effektiv: ein ganz einfacher Trick, und dabei schwer zu durchschauen.
FAZIT:
Beide Verfilmungen suchen das Neue, Unbekannte in Stevensons Geschichte, loten sie zwar in höchst unterschiedliche Richtungen aus, kommen dabei aber überraschenden Ergebnissen. Wer einen Farbenrausch und prächtige Ausstattung sucht, findet beim schönen Gesicht des Mr. Hydes sein Elixier, wer es etwas sleaziger und blutiger mag, für den ist die Verwandlung in Ms. Hyde eher die Wahl. Und wer bekommt nun den Vorzug? Beide haben ihre Vorzüge. Aber wir sind Gentlemen – Ladies first!
WERTUNG:
7 von 10 geheimnisvollen Frauen in roter Corsage (1960) oder im roten Morgenmantel (1971)