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Zeit der Jagd

Zeit der Jagd

OT: Av Mevsimi
KRIMI: TüRKEI, 2010
Regie: Yavuz Turgul
Darsteller: Sener Sen, Cem Yilmaz, Çetin Tekindor, Melisa Sözen, Okan Yalabik, Mustafa Avkiran, Nergis Çorakçi

STORY:

Der abgetrennte Arm einer jungen Frau wird gefunden. Man setzt den kurz vor der Pensionierung stehenden Kommissar Ferman, genannt "Der Jäger" auf den Fall an. Mit einem studierten Nachwuchscop und seinem hitzköpfigen Partner beginnt die Suche nach dem Mörder, durch alle Gesellschaftsschichten hindurch ...

KRITIK:

Oops, liebe FPÖ-Wähler, I did it again. Ich war in Istanbul, Wien. Ich habe in den Rachen des treulosen Turbokapitalismus geblickt, ich habe die teutsch-ösdereihische Kultur hintergangen. Ihr boykottiert Nöm seit sie "Süt" statt "Milch" in türkischen Supermärkten auf ihre Packerl schreiben? Na dann werdet ihr die UCI Kinowelt Millenium City so richtig hassen. Dieses verdammte Multiplex spielt türkische Kinofilme in Originalfassung mit österreichisch-türkischer Zielgruppe. Das ist ja Hochverrat. So ähnlich wie das gottlose Haydnkino und das garstige Artis International und das subversive Burgkino und dieses vermaldeite Gartenbaukino... Diese bobogutmenschenverseuchten anti-teutsch-ösderreihischen Lichtspieltheater, die gehören ja alle verboten. Würzbrei statt Ketchup, Gesichtserker statt Nase, wöllerner Überzug statt Pullover. Nix Originalfassung, nix Minderheitenprogramm. Eine Deutschquote von Hundert Prozent gehört her, damit dem gescheiterten Multikulturalismus und seinen bürgerkriegsähnlichen Zuständen in unserem Land der Garaus gemacht wird.

Gut, dass mich solche lächerlichen Gedanken so rein gar nicht tangieren. Denn auch, wenn dies wahrscheinlich schon hundertmal das Unwort oder Wort des Jahres war, dieser Kinobesuch war eine Bereicherung. Zugegeben, der Krimi ist ein etwas verbrauchtes Genre, das längst vom Fernsehen erobert wurde und das gar nicht mal schlecht. "Tatort" wird nicht umsonst als Fernsehen für Cineasten bezeichnet. Es ist immer dasselbe Schema, immer derselbe Clou, aber es gilt nun einmal die Grundregel: Willst du der Gesellschaft im Fernsehen den Spiegel vorhalten, musst du jemanden kaltmachen. Willst du einige relevante Themen ansprechen oder ein Milieu studieren, dann muss eine schöne Leiche im Hauptabend her. Sonst interessiert es die Leute nicht. Obwohl der Mord tatsächlich nur so um die 0,1 Prozent der Verbrechen ausmacht, wie ich mal irgendwann irgendwo gelesen hab. Gäbe es so viele Morde wie das Fernsehen vermuten lässt, dann wäre Bad Tölz schon ausgerottet.

"Zeit der Jagd", so der deutsche Titel von "Av Mevsimi" ist sowas wie ein Blockbuster des türkischen Kinos, wo der Regisseur Yavuz Turgul die Crème de la Crème des türkischen Schauspiels versammelt hat, allen voran Sener Sen als alter Hase, der schon seit Jahrzehnten mit ihm dreht, und dem türkischen Superstar und eigentlichen Comedian Cem Yilmaz, der nach "Hokkabaz", "G.O.R.A" und "A.R.O.G" endlich einmal in einer ernsten Rolle als hitzköpfig-psychopathischer Cop brillieren darf.

Regisseur Turgul beschäftigt sich meistens mit Figuren die nicht mehr so recht in ihre Zeit passen wollen. Hier geht es, wie gesagt, um einen Cop alter Schule, gemimt von dem unglaublich wandlungsfähigen Sener Sen, der auf Prinzipien und Methoden schwört, die längst niemand mehr ernst nimmt. Wie in jedem guten Krimi gibt es auch hier einen Querschnitt durch alle Schichten der Gesellschaft. Alle Klischees und Themen der türkischen sozialen Realität werden da durchgespielt. Superreiche Aufsteiger aus dem Osten treffen auf konservative Gläubige, das moderne Istanbul auf eine alte, archaische Kultur, das ganze anarchisch-gewaltätige Potential auf der einen Seite und die sichtbare Transformation in eine versachlichte Zivilgesellschaft auf der anderen Seite.

Gewürzt wird das Ganze durch die feine zwischenmenschliche Dynamik der drei Cops aus verschiedenen Zeitaltern und mit verschiedenen Familienverhältnissen und Privatleben. Der junge Anthropologiestudent samt Freundin als Repräsentanten der modernen Generation, der psychopathische, immer noch auf seine geschiedene Exehefrau schwer eifersüchtige Draufgängercop und der alte Hase, ein Mann von Anstand und Ehre streifen durch ein widersprüchliches Land mit ganz eigenen Gesetzen und Normen.

Ob Av Mevsimi den geneigten Kinogeher zu überraschen vermag, wage ich zu bezweifeln, Preise für Innovation wird es keine hageln. Aber darum geht es ja ohnehin nicht. Als interessanter Kommentar und Einblick zur modernen Türkei kann man den Film auf jeden Fall gelten lassen. Seine bemerkenswerten Darsteller und komplexen Charaktere, sein melancholischer Grundtenor, seine fabelhafte Optik, beeindruckende Bilder mit reichlichem Steadycameinsatz und gefinkelten Plansequenzen und die für uns exotischen Schauplätze sind die Kinokarte allemal wert. Einzig die stattliche Länge könnte den einen oder anderen Zuseher etwas quälen, aber für ein derartig umfangreiches Gesellschaftsportrait darf man sich schon ein wenig Zeit nehmen.

Zeit der Jagd Bild 1
Zeit der Jagd Bild 2
Zeit der Jagd Bild 3
Zeit der Jagd Bild 4
Zeit der Jagd Bild 5
Zeit der Jagd Bild 6
FAZIT:

Zugegeben, wegen einem Sonntagsabendfilm ins Kino gehen, erscheint ein bisschen widersinnig. Irgendein "Tatort" läuft sicher irgendwo. Trotzdem, Zeit der Jagd ist ein komplexer, gut gemimter und fabelhaft aussehender Krimi aus Istanbul, überrascht zwar sicher nicht, bietet aber durch seine Herkunft, denn so oft sieht man türkische Filme wieder nicht, doch so etwas wie einen Mehrwert, weswegen man ruhig einen Gang ins Kino wagen möge. Sehr sehenswert!

WERTUNG: 8 von 10 Fehler
TEXT © Ralph Zlabinger
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