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Es gibt ja Menschen, deren bloßer Anblick in einem den Drang auslöst, ihnen in die Fresse zu hauen. Und dann gibt es Vincent. Aus irgendeinem Grund will plötzlich jeder, der Vincent über den Weg läuft, ihm an die Gurgel. Vincent läuft um sein Leben ...

Man weiß ja, wie dünn das zivilisatorische Eis ist. Wie wenig es braucht, dass die Bestialität aus dem Menschen hervorbricht. Gefühlt jeder zweite Film auf unserer bescheidenen Website handelt davon, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, wie schon die alten Römer zu sagen pflegten.

VINCENT MUST DIE ist der Debütfilm von Stéphan Castang, der hier am Wiener slash-Filmfestival seine ausverkaufte Premiere feiert. Bevor er sterben muss, lernen wir Vincent erst einmal kennen. Ein unauffälliger Typ um die Dreißig, optisch die Quersumme aus Wolodymyr Selenskyj und diesem steirischen Wutbauern, der es sogar zu Netflix-Prominenz gebracht hat. Ein Mann also, dessen auffälligste Eigenschaft darin besteht, einer großen Portion Mittelmäßigkeit eine kompakte Form zu geben. Aber auch einer, mit dem man sich nicht unbedingt anlegen will.

Doch genau das passiert ihm, ständig. Der Praktikant im Büro, der ihm aus heiterem Himmel mit dem MacBook eins über den Schädel zieht. Der Kollege, der wie von Sinnen mit einem Stift auf ihn einsticht. Der Clochard vor dem Restaurant, der plötzlich auf ihn losgeht, aber dann von einem Auto niedergemäht wird. Die Oma im alten Renault, die versucht, ihn vom Fahrrad zu stoßen.

In den ersten 20 Minuten ist noch nicht ganz klar, wohin die filmische Reise eigentlich gehen soll. Schwarzhumorige Groteske? Brachiale Gesellschaftssatire? Paranoia-Thriller? Bildet Vincent sich die Attacken gar nur ein, wie der Plattitüden absondernde Psychiater ihm suggerieren möchte? Oder steckt doch mehr dahinter? Vincent bleibt nur noch die Flucht ... auf der er merkt, dass er mit diesem Problem keineswegs alleine ist.

Nach dem etwas unentschlossenen Einstieg nimmt der Film ab diesem Punkt rasant Fahrt auf. Spannung und Intensität steigen steil an, die (irritierenden) Lacher zu Beginn verstummen rasch. Hier kämpft jemand ums nackte Überleben, und offenbar ist das Problem weit größer (und weniger lustig) als angenommen. Auch wenn sich Vincent im Kampf mit einem Angreifer in einer Jauchenlacke (!) wälzen muss.

Der Film kommt aus Frankreich, und man fühlt sich unweigerlich an die beklemmenden Geschehnisse rund um die Gelbwesten-Proteste und Banlieue-Aufstände erinnert. Warum politische und gesellschaftliche Konflikte in Frankreich stets so viel militanter und gewalttätiger ausgefochten werden als in anderen westlichen Demokratien, dazu müsste man wohl Politwissenschaftler oder Psychologen befragen. VINCENT MUST DIE ist ein Gegenwartskommentar in Gestalt eines vielschichtigen, überraschungsreichen Genrefilms. Der - und damit hätte ich am wenigsten gerechnet - irgendwie auch eine Lovestory ist. Ja, tatsächlich.

Der Beklemmungsfaktor bleibt aber hoch. Und am Heimweg nach dem Kino habe ich noch penibler als üblicherweise darauf geachtet, feiernden/marodierenden Jungmännergruppen aus dem Weg bzw. Blickfeld zu gehen. Wer den Film gesehen hat, weiß, warum.