OT: Le quattro volte
DOKUMENTARFILM: I/D, 2010
Regie: Michelangelo Frammartino
Darsteller: Giuseppe Fuda
Es ist Herbst in Kalabrien. Ein alter Ziegenhirte stirbt. Ein Zicklein wird geboren und geht verloren. Es schläft unter einer Fichte ein. Diese erlebt noch den Winter. Im Frühling wird sie gefällt und zum Maibaum. Dann wird sie in einer Köhlerei zu Holzkohle.
Schwarze Leinwand. So beginnen und enden alle vier Teile von Michelangelo Frammartonis zweitem Langfilm. Im Hintergrund ist anfangs jedes Mal auch ein Klopfen oder Trommeln zu hören, das an Herzschlagen erinnert. Dann erfolgt ein Schnitt zu einem der vier Leben: Mensch, Tier, Pflanze, Mineral. Nicht immer markiert der Wechsel von einem zum nächsten Subjekt eine Geburt. Der Hirte und der Baum lebten unzweifelhaft schon vor dem ersten Kontakt mit der Linse. Daher kann ich die Verbindung zur pythagoreeischen Seelenwanderungslehre, die unter anderem vom Regisseur selbst in Interviews und dem offiziellen deutschen Trailer hergestellt wird, nicht ganz nachvollziehen.
Mich hat das Vergehen und Entstehen mehr an die christliche Begräbnisliturgie erinnert: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Aber all das ist am besten der persönlichen Interpretation überlassen. Viel wichtiger ist es, wie Frammartoni es schafft, all diese Metaphysik nur mit Bild- und Tonmontage aber ohne Worte heraufzubeschwören.
Der Film gibt sich in seinem ersten Teil zunächst dokumentarisch. Lange, meist starre Einstellungen zeigen den Tagesablauf des Hirten in der Natur und in einem Bergdorf. In Nah- und Großaufnahmen; hier besonders beeindruckend das furchige Gesicht des Hirten beim Urinieren, das von einer Ameise durchwandert wird. Der Hirte ist krank. Er atmet schwer und hustet. Ein Tauschgeschäft mit der Kirchenhaushälterin soll ihn gesund machen. Er gibt ihr Ziegenmilch. Sie gibt ihm Kirchenstaub. Organisches für Mineralisches und umgekehrt. Den Staub sieht man zunächst als einzelne Teilchen im einfallenden Sonnenlicht schweben. Dann wird er, zusammengekehrt, als pulvrige Masse in ausgerissenen Zeitschriftenseiten verpackt. Schließlich wird er vom Hirten in Wasser aufgelöst, worin er klumpig schwebt, sich mit der Flüssigkeit verbindet und sie trübt.In totalen und weiten Aufnahmen; hier hervorzuheben die starre Kamera, die auf das Haus des Hirten, die Straße davor und das Ziegengehege auf der anderen Straßenseite gerichtet ist.
Dieses Bild wird einige Male (auch in anderen Teilen des Films) wiederholt. Am Ende des Hirtenkapitels wird es in einer rund zehnminütigen, absolut grandiosen Plansequenz, in der mehrere Schwenks und der Hund des Hirten die Starre brechen, ein weiteres Mal aufgegriffen. Spätestens hier merkt man, dass die scheinbar natürliche Welt konstruiert ist. Wer sich überraschen lassen will, sollte den nächsten Absatz nicht lesen.
Der Hund des Hirten weiß, dass sein Herrchen im Sterben liegt. Dieser hat beim Urinieren auf der Weide seinen Kirchenstaub verloren. Ein nächtliches Klopfen am Kirchentor ist erfolglos. Der Hirte hat keine Medizin. Am nächsten Morgen zieht eine Prozession an der starren Kamera, am Haus des Hirten, am Ziegengehege vorbei. Offenbar ist es eine Nachstellung des Kreuzwegs Jesu. Der Hirtenhund will auf sich und sein Herrchen aufmerksam machen und bellt die weinenden Frauen Jerusalems (?) an. Es gesellen sich Prozessionszuschauer zu den Frauen.
Der Hund hört auf zu bellen. Dann kommt die eigentliche Prozession. An ihrer Spitze römische Legionäre. Der Hund bellt sie an. Die Legionäre vertreiben ihn. Der erste Schwenk der Kamera. Sie folgt dem Hund, der in der Böschung verschwindet. Die Kamera verharrt, bis sie die an ihr vorbeiziehende Prozession aus dem Blick verliert. Der Hund taucht wieder auf. Die Kamera folgt ihm zurück zum Haus. Er bellt ein Kind an. Das kann ihn mit ein paar geworfenen Steinen überlisten.
Niemand mehr hier. Allen anderen Möglichkeiten beraubt zieht der Hund einen, in einer vorigen Szene mit Bedeutung aufgeladenen Ziegelstein unter einem Laster weg. Der parkt vor dem Haus seines Herrchen in einer abschüssigen Seitenstraße. Der Laster rollt rückwärts, die Kamera schwenkt. Die unglaubliche Schauspielleistung des Hundes wird im zweiten Teil von der jungen Ziege fast noch übertroffen. Wie das menschliche schwankt auch das tierische Kapitel zwischen Tragik und Komik.
In Teil drei und vier, über Pflanze und Mineral, wechselt der Film m.E. wieder mehr in den dokumentarischen Modus. Fesselnd bleibt es aber auch hier. Alle folgenden Bilder sind wie gehabt voller Details und dokumentieren ein Fest und einen fast ausgestorbenen Beruf.
Michelangelo Frammartoni ist mit Vier Leben ein Meisterwerk gelungen. Er verwurzelt kommentarlos Metaphysik in der physikalischen Welt eines kalabrischen Bergdorfs mit seiner Umgebung, seinen Jahreszeiten, seinen Bewohnern und deren Beschäftigungen. Nicht verpassen solange er noch im Kino läuft. Im Wiener Votivkino.