GIALLO: Italien, 1972
Regie: Romano Scavolini
Darsteller: Ida Galli, Luigi Pistilli, Ivan Rassimov, Shawn Robinson
Als Kind musste Marialé mitansehen, wie der Vater die Mutter in flagranti beim Ehebruch erwischt und dann Ehefrau, Liebhaber und sich selbst gerichtet hat. Jahre später lebt sie als labile Erwachsene wie eine Gefangene im Schloss ihres Ehemannes und wird von diesem mit Tranquilizern ruhig gestellt. Als sich die dekadenten Freunde des Paares fürs Wochenende ansagen, kommt es zu einem Blutbad...
Der Name Romano Scavolini wird vor allem den Sammlern in Deutschland verbotener Filmfreuden geläufig sein. Hat sich der Italiener doch für den 1981 in den USA gedrehten und mit kruden Tom Savini-Effekten ausgestatteten Sicko-Slasher NIGHTMARE IN A DAMAGED BRAIN verantwortlich gezeichnet.
Fast eine Dekade vorher hat er jedoch einen Film namens UN BIANCO VESTITO PER MARIALÉ geschaffen; einem Giallo-Schätzchen, das vom Kultlabel Camera Obscura dankenswerterweise gehoben wurde und aus Ermangelung einer deutschen Synchronisation im italienischen Originalton mit deutschen (wahlweise englischen) Untertitel und einer Bildqualität zum Niederknien endlich in aller verdienter Würde präsentiert werden kann.
Stilistisch haben Scavolinis Hauptwerke - hier der elegante, in morbider got(h)ischer Schönheit erstrahlende Thriller all'italiana, dort der krude Schlitzerflick kaum etwas miteinander gemein, doch teilen sie sich zumindest die gleiche Ausgangslage: Ehebruch und Mord vor Kinderaugen - ein Trauma, welches Jahre später in ein schauriges Blutbad mündet.
UN BIANCO VESTITO PER MARIALÉ entpuppt sich als ein stilvoll inszenierter und überraschend vielschichtiger Giallo. Auf den ersten Blick könnte er ein Vertreter jener beliebten Genre-Spielart sein, die eine Gruppe moralisch bankrotter, eher unsympathischer Anti-Identifikationsfiguren auf einem isolierten Ort (einmal mehr ein Schloss) zusammenbringt und einen gesichtslosen Mörder das alte Schuld- und Sühne-Spiel in Gang bringen lässt. Doch auch wenn unter den Charakteren kaum Sympathieträger auszumachen sind (und diese im Filmmittelteil auch noch ausgiebig Gelegenheit haben, der Dekadenz und Ausschweifung zu frönen), ist der auch unter dem Titel SPIRITS OF DEATH bekannte Film viel mehr das kryptisch-verschachtelte Psychogramm einer zerrütteten Seele.
Das Schloss der Leib, in dem die gequälte Seele gefangen ist. Der Kellertrakt mit seinem Schreckenskabinett bizarrer Exponate als Verkörperung des gestörten Unterbewußtseins. Die Gäste, welche jene geheime Leidenschaften und verbotene Obsessionen symbolisieren; die einst ins Unglück geführt haben. Die letzten drei verbliebenen Figuren auf diesem psychosexuellen Schachbrett stehen am freilich deprimierenden Ausgang ganz eindeutig für die Protagonisten einer immerwährenden Tragödie.
Die Identität des Killers bleibt zwar bis zur letzten Minute geheim, liegt aber eigentlich schon sehr früh auf der Hand. Die Whodunit-Komponente dieses Giallo entpuppt sich lediglich als Fassade; Scavolini war viel mehr an der Errichtung eines bildstarken, düsteren wie dekadenten Seelenlabyrinths interessiert.
Nach dem blutigen Prolog müssen sich jene Fans, die die alten italienischen Thriller hauptsächlich wegen ihrer Mordvariationen schätzen, lange gedulden, bis ihre Wünsche auf dem Bildschirm zu Tage treten. Erst in den finalen fünfundzwanzig Minuten setzt der Body Count ein; dann geht es allerdings Schlag auf Schlag. Und die Morde sind nicht nur relativ graphisch, sondern auch tatsächlich in allerbester Giallo-Tradition komponiert. Davor kann der Film zwar mit einer grandios morbiden Schlosskulisse, vielen symbolträchtigen Schauwerten sowie einem exquisiten Genre-erprobten Cast (Galli! Rassimov! Pistilli!) dienen, leistet sich aber auch einige dramaturgische Leerläufe. In Sachen Suspense gibt es sicherlich stärkere Konkurrenz als UN BIANCO VESTITO PER MARIALÉ.
Der aus gefühlvollen Melodien und pulsierenden psychedelischen Beats bestehende Score von Fiorenzi Carpi verdient eine Extra-Erwähnung, gehört er doch nicht nur zu den stimmungsvollsten, sondern auch zu den Großartigsten seines Schlags.
Der Giallo als Psychogramm einer traumatisieren Seele... - Noch in der italienischen Heimat neun Jahre vor seinem in den USA gedrehten und hierzulande verbotenen Sicko-Slasher NIGHTMARE IN A DAMAGED BRAIN entstanden, legt Romano Scavolini hier ein düsteres, aber vor allem bildstarkes Seelenlabyrinth an. Dramaturgisch gönnt sich der mit Genre-Ikonen wie Luigi Pistilli, Ida Galli und Ivan Rassimov gespickte Film besonders im Mittelteil einige Verschnaufpausen; begeistert jedoch den geneigten Fan im Schlussdrittel mit einigen blutigen, nach allen Regeln der Giallo-Kunst zelebrierten Morden. Die wahren Stärken liegen aber in der geschickt verschlüsselten psychologischen Tiefe, der dekadenten Schloss-Atmosphäre sowie der unglaublich stimmigen Filmmusik von Fiorenzi Carpi, die leichtfüssig zwischen gefühlvollen Melodien und psychedelischen Beats hin- und hergleitet.