OT: Topazu
DRAMA/EROTIK: Japan, 1992
Regie: Ryu Murakami
Darsteller: Miho Nikaido, Sayoko Amano, Tenmei Kano, Masahiko Shimada
Die japanische Studentin Ai (Miho Nikaido) arbeitet als Callgirl in Tokio. Niemand würde vermuten, dass die äußerst schüchterne junge Frau auf BDSM-Praktiken spezialisiert ist. Als Sklavin erfüllt Ai ihren ebenso reichen, wie perversen Kunden fast jeden Wunsch. Dabei muss Ai immer wieder an einen ehemaligen Kunden denken, in den sie sich verliebt hat, der jetzt jedoch nichts mehr von ihr wissen will. Sein Foto nimmt sie sogar mit zur Arbeit in die Hotels. Während Ai sich dort im Badezimmer für den aktuellen Kunden fertig macht, träumt sie von einem bürgerlichen Leben mit dem von ihr geliebten Mann.
Das japanische Erotikdrama TOKYO DECADENCE (1992) ist die bekannteste Regiearbeit des vorrangig für seine Romane berühmten Ryu Murakami, von dem auch das Drehbuch stammt. Murakami hat ebenfalls das Skript für Takashi Miikes Kultschocker AUDITION (1997) verfasst. Beiden Werken gemein ist die Fetischisierung der Protagonistin und die Verbindung von Sexualität und Gewalt. Während sich der Horrorfilm AUDITION dem Genre gemäß auf die aus sexuellen Abgründen geborene Gewalt konzentriert, zeigt TOKYO DEKADENCE Sexualität als Ausdruck einer gewaltsamen Gesellschaftsstruktur. Ais Rolle als sexuelle Sklavin dient als Metapher für eine Versklavung des Menschen durch einen radikalen Kapitalismus und Materialismus. Die Thematik des Films ist zwanzig Jahre nach seiner Entstehung so aktuell, wie nie zuvor.
Alles ist in TOKYO DECADENCE ein Bild, das für etwas über die konkrete Handlung Hinausweisendes steht. Der Name der Protagonistin "Ai", ist Japanisch für "Liebe". Nicht nur, dass diese Ai unter ihrer nicht erwiderten Liebe zu einem reichen Galeristen leidet (einem Verkäufer von Bildern). Die Verlorenheit und zunehmende Verwirrung mit der Ai durch ihr Leben geht, zeigt auch, dass in dem einer gigantischen Maschine gleichendem Tokio kein Platz für wahre zwischenmenschliche Gefühle, geschweige denn Liebe ist. Im Original heißt der Film TOPAZU ("Topas") und auch dieser Edelstein ist ein Symbol. Eine Wahrsagerin riet Ai immer einen pinken Topas als Glücksbringer und als Schutz bei sich zu tragen. Dass sie diesen sehr bald verliert zeigt, wie unsicher ihr Leben als Callgirl ist und wie sehr sie sich ihrer kalten Umwelt ausgeliefert fühlt.
In TOPAZU steht BDSM für Kontrolle und für Unterdrückung. Die Kunden kaufen Ai ("die Liebe") und erfreuen sich daran, dass sie zu ihrer Sklavin wird. Ihre Lust an Ais Ausbeutung und Endwürdigung ist ebenfalls in eindringlichen Bilder eingefangen. Da ist z.B. die den weiteren Handlungsverlauf vorwegnehmenden Eröffnungsszene, in der Ai gegen ihren Willen Heroin gespritzt wird. Noch einprägsamer ist das Bild, dass auch viele DVD-Cover des Films ziert. Ein Kunde, der sich selbst als pervers bezeichnet, zwingt Ai sich an der Fensterfront seines Hotelzimmers - für jeden sichtbar und quälend langsam - ihren Slip herunterzuziehen. Ai wird zu einem lebendigen Bild der verdorbenen Unschuld, wie sie von den Glasrahmen eingefasst am Fenster steht. Auch ihre Gegenwelt zu der für sie immer schwerer erträglichen Realität ist nur ein Bild, das Foto des Galeristen, das sie bei sich trägt.
Ai teilt mit ihren Kunden eine große innere Leere, die keiner von ihnen zu überwinden vermag. Eine reiche Prostituierte, mit der sich Ai zeitweise anfreundet sagt ganz klar, dass der Grund ihres Erfolges darin liegt, dass sie den Spieß einfach umgedreht hat. Sie macht sich die Obsessionen ihrer Kunden zunutze, um möglichst gut an ihnen zu verdienen. Doch auch wenn sie oberflächlich gesehen ein sorgloses Leben in Luxus führt, so treibt auch sie ihre innere Leere in die Selbstzerstörung. Keiner der Menschen in diesem Kosmos scheint zu tieferen zwischenmenschlichen Gefühlen in der Lage zu sein. So herrscht in Ais "Agentur" oberflächlich betrachtet eine freundliche, warme Atmosphäre. Doch als eine ihrer Kolleginen ("Das Dickerchen") Geburtstag hat, sitzt diese ganz alleine mit ihrem Kuchen an einem Tisch und keiner der anderem kümmert sich um sie. Das Tokio aus TOKYO DECADENCE ist eine riesige, kalte Maschine, die in hohem Tempo im Leerlauf läuft und dabei nach und nach all ihre Bewohner verschleißt, ohne, dass diese es überhaupt bemerken würden.
In Ryu Murakamis Erotik-Klassiker TOKYO DECADENCE dient das Thema BDSM als Metapher für die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Auch wenn der Film einige sehr stilisierte Szenen stark fetischisierter Sexualität zeigt, ist TOKYO DECADENCE nur sehr selten tatsächlich erotisch. Stattdessen serviert der Romancier Murakami hier eine recht bittere Pille in geheimnisvoll funkelnder Verpackung. Die kalte Schönheit der Bilder wird noch durch Ryuichi Sakamotos kühlen Electro-Score untermalt.