THRILLER: USA/CAN, 2012
Regie: Pascal Laugier
Darsteller: Jessica Biel, Stephen McHattie, William B. Davies, Jodelle Ferland
Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann? Die Bewohner von Cold Rock, einer heruntergekommen ehemaligen Bergbaustadt in Washington. Mit gutem Grund: Ein Dutzend Kinder sind spurlos verschwunden. Die Einheimischen erzählen sich vom Tall Man, einer mysteriösen Kreatur, die im Wald haust und die Verbrechen begangen haben soll. Die Krankenschwester Julia will der unheimlichen Geschichte keinen Glauben schenken - bis ihr eigener Sohn David entführt wird ...
... und mehr soll vom Plot auch nicht ausgeplaudert werden.
Gänzlich unvorbereitet nehme ich im warmen Bauch des Wiener Filmcasinos Platz. Zweite Reihe, beste Sicht. Der Saal ist fast ausverkauft - Festival, no na - die Erwartungshaltung ist groß, die Anspannung im Raum deutlich bemerkbar. Alles wartet auf den Großen Mann, die unheimliche Hauptfigur im neuen Film von Martyrs-Regisseur Pascal Laugier.
Und dann kommt alles ganz anders, als erwartet.
Gut, die vielen, vielen Twists im ersten Filmdrittel, wo sich die Geschichte immer wieder umdreht, das hatten wir bei Martyrs auch. Zumindest beim Autor dieser Zeilen reißt Laugier damit nichts mehr, im Gegenteil: Das Spiel mit den ach-so cleveren Perspektiven-Wechsel und Denksport-Aufgaben, es ermüdet mich nur noch. Und gerade, als ich entnervt so etwas wie WTF in meinen nicht existenten Bart murmele, reißt Laugier das Ruder ein letztes Mal herum. Diesmal in die richtige Richtung:
Zwischen Paranoia-Thriller, Psychodrama und Serienkiller-Jagd kommt eine Melancholie zum Vorschein, die mich erst überrascht, dann vollkommen geplättet und überwältigt hat. Ja, damit hätte ich am wenigsten gerechnet: Dass der Mann, der diesen eiskalten, wahnhaft brutalen und - schlagt mich ruhig - an seiner größenwahnsinnigen, weltniederreißenden Ambition letztlich gescheiterten Folter-Exzess namens Martyrs auf die Menschheit losgelassen hatte, dass dieser Mann mich also fast zum Weinen bringt, als wäre ich in einem Lars von Trier-Film, das kommt nun doch überraschend.
Gut, ich geb's ja zu, ich bin wahrscheinlich näher am Wasser gebaut als die zahlreichen langhaarigen Gorehounds mit den dekorativen Mutterficker-Metal-T-Shirts im Publikum. Und seit ich selbst Vater bin, gehen mir Filme, in denen Kindern etwas angetan wird, immer massiv an die Nieren. Für Eltern ist das definitiv der Stoff, aus dem die Albträume sind.
Viel könnte man noch schreiben über die Gänsehaut erzeugend schöne Kameraarbeit, über die beachtlichen schauspielerischen Leistungen (vor allem Jessica Biel), und vor allem über das irritierende Schluss-Bild - das ich hier aber wohl kaum verraten werde ;-)
Man sollte aber auch nicht verschweigen, dass der Film mit Genre-Konventionen vorsätzlich bricht und bestimmten Erwartungshaltungen den gestreckten Mittelfinger zeigt. Pascal Laugier, die die französische Terror-Welle auf eine Spitze trieb, von der sie nicht mehr weiter weiß, hat sich etwas getraut: Nämlich auf Gewalt und Terror fast vollständig zu verzichten - die Enttäuschung der Torture-Porn-Groupies wohl miteinkalkuliert. Wie sich die anfühlen muss, ist in diesem Verriss nachzulesen.
Was kann nach einem Film wie Martyrs noch kommen? Auf den ersten Blick ein Psychothriller, erweist sich THE TALL MAN als eine traumschöne, melancholische, Normen und Konventionen sprengende Geisterbahnfahrt ins finstere Herz von Smalltown America, wie sie wohl nur ein leicht wahnsinniger Franzose hinbekommen kann.