OT: La ragazza dal pigiama giallo
GIALLO: ITALIEN, 1977
Regie: Flavio Mogherini
Darsteller: Ray Milland, Dalila di Lazzaro, Michele Placido, Howard Ross
Im September 1934 wird im australischen Albury die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie weist derart massive Verstümmelungen auf, dass sie zunächst nicht identifiziert werden kann. Klar ist nur, dass das Mädchen, welches als "Pyjama Girl" in die australische Kriminalgeschichte eingegangen ist, einem brutalen Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist -
KRITIK:Flavio Mogherini verlegt in seinem Film den PYJAMA GIRL CASE aus den Dreißiger Jahren in die Siebziger und erlaubt sich auch sonst die ein oder andere Freiheit; trotzdem orientiert er sich noch relativ nahe an den wahren Begebenheiten eines Kriminalfalls, der in Australien zur Legende wurde.
Mogherinis PYJAMA GIRL CASE stellt durch die Tatsache, dass sein Plot auf einem authentischen Fall basiert, ohnehin einen Seltenheitswert im italienischen Thriller dar. Schließlich haben die in diesem Metier tätigen Filmemacher und Drehbuchautoren, wenn es ans Ausarbeiten einer Story gegangen ist, nur bei äußerst wenigen Gelegenheiten auf tatsächliche Kriminalakten zurückgegriffen. Ad hoc fallen mir diesbezüglich eigentlich nur Cesare Ferrarios IL MOSTRO DI FIRENZE aus dem Jahr 1986 und -sofern man Lamberto Bavas Horror-lastiges Debüt überhaupt dem Genre zurechnen will- noch MACABRO ein.
Mogherini stellt mit THE PYJAMA GIRL CASE aber wohl den true-sten in der überschaubaren Riege der True Crime-Gialli; auch wenn es einen Inspektor Thompson (wie hier von Ray Milland gespielt), der sich selbst aus dem Ruhestand reaktiviert, um im letzten Fall seines Lebens, hinter das Geheimnis einer namenlosen Toten zu kommen, so nie gegeben hat. Dafür entsprechen aber andere Protagonisten, Ereignisse und Verwicklungen den angenommenen Tatsachen. Die Relativierung deshalb, weil der Fall des Pyjama Girls immer noch nicht restlos aufgeklärt ist und einige Unstimmigkeiten übrig geblieben sind.
Zweifelsohne jedoch gehört dieser Giallo zu den seltenen Genrebeiträgen, die ohne eine europäische Location auskommen. Aber da Australien die Heimat des Pyjama Girls ist (oder besser war), ist es nur logisch, dass auch "ihr" Film dort spielt. Die australische Umgebung erscheint anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, aber selbst der puristische Fan sollte sich schnell akklimatisieren können.
Eventuelles Heimweh bekämpft zum einen die typisch italienische Inszenierung, zum anderen der markante Score von Riz Ortolani. Letzterer hält sogar zwei von Amanda Lear gesungene Ohrwürmer bereit.
Darüber hinaus hat es Mogherini nicht versäumt, den alten internationalen Haudegen Ray Milland und Mel Ferrer sowie dem aus der alten TV-Serie ALLEIN GEGEN DIE MAFIA bekannten Michele Placido eine kleine römische Eskorte aus Exploitation-erprobtem Genrepersonal mit nach Australien zu geben.
Als da wären der allein schon wegen seiner Visage stets verdächtige Howard (DER NEW YORK RIPPER, WEREWOLF WOMAN) Ross und Dalila di Lazzaro, die vier Jahre zuvor noch von Udo Kier aus Leichenteilen zur ansehnlichen Paarungspartnerin für ANDY WARHOL´S FRANKENSTEIN zusammengebastelt worden ist.
Di Lazzaro, die man bisher meist in nackten und/oder wenig anspruchsvollen Nebenrollen erlebt hat, überrascht, indem sie ihre tragende Rolle zwar nicht Oscarreif, aber doch sehr solide stemmt. Nackt ist sie aber auch hier zu sehen. Etwa beim Gangbang in einem freudlosen, billigen Motelzimmer, der aber auch tragische Tiefe neben seinem Sleaze-Faktor offenbart. Wie Closeups und Gegenschnitte von und auf Gesichter, Augen und Mimik der Beteiligten deutlich belegen.
Doch die eigentliche Schlüsselszene des Films erleben wir schon früher; nämlich im mittleren Akt. Denn dort wendet die Polizei eine äußerst makabere Methode an, um die Identifikation des unbekannten Mordopfers herbeizuführen. Sie präsentieren den nackten und geschändeten Leib wie eine Schaufensterauslage der Öffentlichkeit. Das mutet seltsam, geradezu pervers an und führt daher folgerichtig zu einem der unvergesslichsten und intensivsten Szenarien im PYJAMA GIRL CASE.
Ein ganz starkes Händchen für Inszenierung beweist Mogherini, wenn er die verschiedensten Mienen und Reaktionen der Beiwohner dieser morbiden Zurschaustellung in ein Wechselspiel mit den Wunden und Entstellungen des Leichnams bringt. Allein diese Szene zeigt, dass hinter THE PYJAMA GIRL CASE weit mehr steckt als viele vermuten. Denn bei Kritik und Fandom wird die Kraft dieses stillen, aber außergewöhnlichen Giallo gerne etwas unterschätzt.
Ich will gar nicht bestreiten, dass das Mädchen im gelben Schlafanzug viele der lieb gewonnenen Ingredienzien wie psychedelische Settings, düstere Gestalten oder Rasiermessermorde, welche uns das Genre sonst so kredenzt, komplett schuldig bleibt. Unbestritten auch, dass der Film zu der Sorte gehört, die man wohl nur einmal, allerhöchstens zweimal im Leben schauen wird. Aber dank seiner cleveren, verschachtelten Erzählweise wirkt sein Plot recht komplex und es wird alles andere als ungeschickt Tragisches, Sleaziges und Morbides zu einem ruhigen, aber außergewöhnlichen und bewegenden Giallo vermengt.
PS: Noch zwei Anmerkungen zum Schluss: Die Inhaltsangabe in der ofdb ist meines Erachtens etwas irreführend und der völlig unpassende Alternativtitel EIN MANN GEGEN DIE MAFIA rührt vom Mitwirken des Schauspielers Michele Placido her. Placido war einst Star in der seinerzeit in Deutschland sehr angesagten TV-Serie ALLEIN GEGEN DIE MAFIA und so hat sich der deutsche Verleih damals nicht entblödet, die Mafia in den Titel zu bringen, auch wenn von der in diesem in Australien (!) spielenden Film weit und breit nichts zu sehen ist.
Giallo a Down Under- Flavio Morgherini nimmt sich in diesem ruhigen, aber originellen True Crime-Giallo jenem schwer identifizierbaren Mordopfer an, welches als so genanntes Pyjama Girl australische Kriminalgeschichte geschrieben hat und um das sich noch heute viele Mythen ranken