BIOPIC: USA, 2019
Regie: Jeff Tremaine
Darsteller: Douglas Booth, Iwan Rheon, Daniel Webber. Machine Gun Kelly
Sie heißen Vince, Mick, Tommy und Nikki. Sie liefen sich am Sunset Strip über den Weg und wurden zu einer der erfolgreichsten Rockbands der Achtziger. Sie erfanden ein eigenes Genre - Glam-Metal - und gingen beinahe am Rock'n' Roll-Lifestyle zugrunde. Die Geschichte von Mötley Crüe, basierend auf der Autobiographie "The Dirt: Confessions of the World's Most Notorious Rock Band" von Neil Strauss.
"Mötley Crüe standen für einen Gesang, der nach gesengter Sau klingt. Sie standen für völlig sinnentleerte, autoerotische Softmetall-Begeilung, für sexistische Texte unterhalb vom Baumschul-Niveau und alles in allem wohl für eine Musik, die von Kreativität weiter entfernt ihr Grauen verbreitete als Dieter Bohlen je in die Nähe der Begriffe Anstand und Würde kommen wird. Mötley Crüe sagten, die Hölle, das sind wir. Neben dem endzeitlichen Gedresche und Gekreische ist diese vollgeräumt mit Nagellackentferner, Stöckelschuhen für Männer, mehreren Hektolitern Haarspray auf Reserve und einer Palette Haushaltspackungen von Wohnzimmer-Glastischen in Kombination mit Kreditkarten."
Quelle: derstandard.at
Man merkt vielleicht: Mötley Crüe waren nicht unbedingt Kritikerlieblinge. Aber was heißt das schon? Ich weiß ja nicht, wo und welchen Umstänen ihr eure Jugend verbracht habt. Aber für den Autor dieser Zeilen, der am Land aufwuchs, war Hairspray-Metal der Soundtrack zur traurigen dorfjugendlichen Samenstau-Existenz. Und gleichzeitig eskapistischer Fluchtpunkt. Kiss, Guns n' Roses, Cinderella, Skid Row, Van Halen, Queensryche und eben Mötley Crüe hießen die Bands, deren Poster das Kinderzimmer schmückten und für deren Platten und T-Shirts man damals gefühlte Vermögen ausgab. Wobei Mötley Crüe stets irgendwie "femininer" wirkten als das Gros ihrer langhaarigen Kollegenschaft. Diese Musik hätte wahrscheinlich auch den Mädchen gefallen, wenn es denn Mädchen im Dorf gegeben hätte.
Ihre Autobiographie "The Dirt", auf die sich der Film bezieht, erschien 2001. 2001, das ist vielleicht die überraschendste Erkenntnis aus dem Film, war doch eine andere Zeit als 2019: Nicht wenige der sodomösen und gomorrhistischen Räubergeschichten aus dem Buch, seien sie nun erfunden oder literarisch zugespitzt, würden im #metoo-Zeitalter für Irritationen sorgen und in dieser Form wohl nicht mehr gedruckt werden. 2001 konnte man noch Geschichten erzählen, die nach heutigem Rechtsempfinden den Tatbestand der Vergewaltigung erfüllen - was damals, 2001 offensichtlich niemandem aufgefallen ist. 2019 entschuldigt man sich dafür, um schlimmere Konsequenzen abzuwenden.
Die Verfilmung von The Dirt wurde erstmals im Jahr 2003 angekündigt. Nun ist es ja selten ein gutes Zeichen, wenn ein Film eineinhalb Jahrzehnte in der Development-Hölle schmort - und dann bei Netflix landet. Andererseits: "The Dirt" als Hollywood-Film? Kaum vorstellbar, die waffenscheinpflichtigen Exzesse der Herrn Mars, Neil, Lee und Sixx sind im Grunde unverfilmbar. Es sei denn, man hätte Martin Scorsese rangelassen. Mit einem 150-Millionen-Budget und einem digital verjüngten Leonardo Di Caprio als Vince Neil. Ja, das hätte Potential gehabt.
Doch leider sieht The Dirt nicht nach 150 Millionen, sondern bestenfalls 15 Millionen Budget aus. Legitimerweise kann man einwenden, dass Netflix nie den Anspruch hatte, großes Kino zu machen - Ausnahmen wie ROMA bestätigen die Regel. Andererseits muss man das Bemühen, eine authentische Achtziger-Jahre-Atmosphäre zu kreieren, zumindest anerkennen: Die Frisuren. Die Hosen. Die Plateuschuhe. Das Make-up.
Dass das Ganze ein bisserl billig und grindig wirkt - tja. Aber wahrscheinlich war das Leben als Glam-Metaller in L.A. Anfang der Achtziger in Wahrheit eben nicht glamourös, sondern tatsächlich ziemlich grindig - was ja im Buch auch blumig beschrieben wird.
Mötley Crües Geburtsort war ein vor Schimmel, Dreck und Kakerlaken starrendes Rattenloch in einem Slum in L.A. Vom Richie Rich-Lebensstil in Hollywood-Villen mit Swimmingpool in Vagina-Form (lest das Buch!) konnten die Herrschaften zu Beginn ihrer Karriere nicht einmal träumen. Trotzdem hätte dieser Film einfach viel irrer, teurer, größenwahnsinniger werden müssen, nicht mit dem glattpolierten Look eines besseren TV-Filmchens. Aber das ist ein generelles Problem von zeitgenössischen Musiker-Biopics. Nämlich dass das Gefährliche, Wahnsinnige, sozial Unverantwortliche des Rock 'n' Roll auf - ich formulier's mal absichtlich arrogant - biedere Mainstream-Tauglichkeit heruntergedimmt wird. Ausnahmen wie LORDS OF CHAOS bestätigen auch hier die Regel.
Ein paar hübsche WTF-Momente kann man dem Film aber doch nicht absprechen. Ich meine, wann hat man zuletzt in einem amerikanischen Film eine Frau quer durch den Raum squirten sehen? Und auch die Konzert-Szenen funktionieren besser als befürchtet. Die im Buch beschriebene Magie, die Gänsehaut, die kollektiven Achselhöhlen-Orgasmen, die sich bei Crüe-Auftritten seinerzeit abspielten, sind dann doch - okay, nicht direkt fühlbar - aber zumindest nachvollziehbar. Das ist nicht nichts.
Und eigentlich wünscht man sich sogar, der Film wäre trotz all seiner Mängel länger gelaufen. Klarerweise kann ein Spielfilm eine Musiker-Biographie, die sich über drei Jahrzehnte voller Höhen und Tiefen, voller Euphorie und Depressionen, voller Sex, Drogen und Tragödien erstreckt, kaum auf zwei Stunden verdichten. Da muss notgedrungen mit Auslassungen gearbeitet werden. Die üblen Episoden der Neunziger werden nur beiläufig gestreift, Pamela Anderson und Vanity kommen überhaupt nicht vor, und die Reunion 1996 verlief ganz sicher nicht im Stil eines romantischen Rock 'n' Roll-Buddy-Movies, sondern wurde von Heerschaften an Anwälten und Managern begleitet. Anyway, Fans der Band können trotzdem das eine oder andere Bier kaltstellen.
Lange erwartet, x mal verschoben, neu angekündigt - und nach 15 Jahren schließlich bei Netflix gelandet. Die Film-Adaption von Mötley Crües haarsträubender Autobiographie The Dirt ist eine zwiespältige Angelegenheit: Vom Look her grotesk billig (wenn man bedenkt, wie viele Millionen diese Herrschaften allein für weiße Substanzen verpulverten), inhaltlich etwas verkürzt, aber dennoch nicht uninteressant. Auch wenn der Film einiges an Dirt aus dem Buch unter den Teppich kehrt, bleibt ein stimmiges Sittenbild einer Dekade, in der Musiker besser aussahen als ihre Groupies und sich Exzesse leisteten, für die man im #metoo-Zeitalter hinter Gittern wandern würde.