DOKUMENTARFILM: DK/GB/IND, 2012
Regie: Joshua Oppenheimer
Darsteller: Anwar Congo, Herman Koto
Der alte Mann, Anwar Congo heißt er, ist gut drauf. Er ist Elvis-Fan, tanzt Cha-Cha-Cha und liebt amerikanische Filme, denn "da gibt es so viele coole Arten zu töten". Mit Töten kennt er sich aus. 1965 wurde er von der indonesischen Militärdiktatur als Folterknecht angeheuert. Über 1000 Menschen hat er mit eigenen Händen ermordet, in einem Genozid, dem schätzungsweise 500.000 bis eine Million Menschen zum Opfer fielen. Die Täter laufen bis heute frei herum. Anwar und ein Mordsgeselle namens Herman reagieren begeistert auf den Vorschlag, ihre Gräueltaten für die Kamera nachzuspielen ...
Ich muss ja zugeben, dass ich schon mal entspannter war vor einem Kinobesuch. Was fiktionale Gewalt anbelangt, würde ich mich ja als eher abgebrühte Sau bezeichnen. Doch dem realen Grauen geradewegs ins Auge zu blicken, ist etwas, das mir zunehmend größere Schwierigkeiten bereitet.
Der junge texanische Filmemacher Joshua Oppenheimer hatte ursprünglich versucht, einen Dokumentarfilm über die Hinterbliebenen und Nachkommen der Opfer des indonesischen Genozids 1965/66 zu machen. Ein gescheiterter Putschversuch wurde damals vom Suharto-Regime als Vorwand verwendet, um hunderttausende Unschuldige abzuschlachten, Chinesen der ethnischen Minderheit, Gewerkschafter, vermeintliche und tatsächliche Kommunisten. Das Morden geschah im Schatten des Vietnamkrieges, und mit Unterstützung des Westens. Das politische System von damals ist immer noch intakt. Eine Aufarbeitung der Verbrechen ist bis heute ausgeblieben.
Rasch musste Oppenheimer erkennen, dass ein Film aus der Opfer-Perspektive nicht möglich ist. Während die Nachkommen der Opfer bis heute zum Schweigen gezwungen werden, reden die Täter um so selbstbewusster.
Zehn Jahre lang hat Oppenheimer an diesem Film gearbeitet, von dem man ohne Übertreibung behaupten kann, dass er ziemlich einzigartig ist in der Geschichte des Dokumentarfilms.
Der Film beginnt quasi als sein eigenes Making-Of. Anwar, die Hauptfigur, und Herman, seine rechte Hand, besuchen die Originalschauplätze ihrer Morde und lassen ihren Erinnerungen freien Lauf. Voller Stolz und mit kaum zu ertragender Detailtreue erzählen sie von den Verhören, Folterungen und Exekutionen. Als Film-Fans wissen die Männer genau, wie man sich inszeniert. Sie schlüpfen in Kostüme - Mafia-Killer, Drag-Queen, Monster - und spielen die Taten für die Kamera nach. Diverse Genres werden durchprobiert: Mafia-Thriller, Splatter-Movie, Musical.
Realität und Fiktion verschwimmen zusehends. Je länger er läuft, desto mehr wird der Film zu einem surrealen Fiebertraum, zu einer apokalyptischen Vision. Alles läuft auf eine Szene hinaus, in dem das Grauen körperlich greifbar wird.
Joshua Oppenheimers Film wird mittlerweile als Oscar-Kandidat gehandelt. Das Gartenbaukino zeigt zwei Versionen: Die gestraffte (122 Minuten) und den Director's Cut (159 Minuten). Diese Rezension bezieht sich auf die Langfassung. Ich vermute, dass sich die gekürzte Fassung weniger Zeit nimmt, auch die erschütternde politisch/gesellschaftliche Situation dieses Landes zu beleuchten, die derartige Taten möglich macht. Der Film zeichnet das Bild eines zutiefst korrupten und verwahrlosten politischen Systems, wo sich Politiker voller Stolz als "Gangster" bezeichnen und sich Mörder als Volkshelden feiern lassen.
Vielleicht wäre an dieser Stelle ein möglicherweise absurdes Gedankenexperiment angebracht: Stellen wir uns kurz vor, wir würden in einer Parallelwelt leben. In dieser Parallelwelt hat Österreich nicht den Einmarsch der Nazis bejubelt, sondern heldenhaft gegen Hitler gekämpft. Nach einem langen und blutigen Guerillakrieg wurde Hitler in Wien erschossen. Tausende Nazis wurden anschließend getötet. Ja, es kam auch zu Folterungen. Sicherlich wurden auch Unschuldige getötet. Gab es Kriegsverbrechen? Natürlich, in jedem Krieg gibt es Kriegsverbrechen, das liegt in der Natur des Krieges. Aber wie würde das offizielle Österreich heute mit seiner Geschichte umgehen? Würde man die Kriegsverbrecher bestrafen? Oder würde man sie als coole Helden feiern, die die bösen Nazis so INGLOURIOS BASTERDS-mäßig umgenietet haben?
Nein, ich will hier nicht aufrechnen und Äpfel (Kommunisten) mit Birnen (Nazis) vergleichen. Das ist unzulässig und gefährlich. Worauf ich vielmehr hinaus will: Der Film zeigt sehr gut, dass Moral etwas sehr Relatives ist. Und, wie Kollege Djan richtig angemerkt hat, dass Moral immer von der Umwelt abhängt, in der man lebt.
Durchaus hilfreich zum Verdauen dieses einigermaßen verstörenden Werks war das Skype-Interview mit dem Regisseur im Anschluss an die Film-Premiere. Offenbar hat THE ACT OF KILLING in Indonesien eine längst überfällige Debatte ausgelöst, ob denn das große Morden tatsächlich so heldenhaft war. Ein nicht zu unterschätzendes Verdienst dieses Films.
Zehn Jahre hat der texanische Filmemacher Joshua Oppenheimers an diesem Dokumentarfilm gearbeitet, in dem die Täter eines der schlimmsten (und bizarrerweise weitgehend unbekannten) Völkermordes des Zwanzigsten Jahrhunderts ihre Taten vor der Kamera nachstellen.
"Ein Film wie es ihn noch nie gegeben hat in 118 Jahren Kinogeschichte."
(Die Welt)
Läuft exklusiv im Wiener Gartenbaukino.