Vor einigen Jahren herrschte bei den James-Bond-Fans plötzlich große Aufregung. Daniel Craig hatte nach dem Kinostart des letzten Films angekündigt, nie wieder als britischer Geheimagent vor der Kamera stehen zu wollen. Zu anstrengend seien die Dreharbeiten zu SPECTRE gewesen. Wenig später tauchte plötzlich der nächste, noch namenlose Film auf der Internet Movie Database auf. Als Produktionsfirma schien Christopher Nolans Produktionsgesellschaft Syncopy auf.
Das passte perfekt ins Bild jener Gerüchte, die seit Jahren besagen, dass Nolan gerne einen Bond-Film drehen möchte. Doch die Freude war verfrüht, offenbar hatte sich jemand einen Scherz erlaubt, oder kostenlose Promotion für SPECTRE gesucht. So verblieb den Fans die Hoffnung auf ein Engagement von Nolan nach dem Abgang von Daniel Craig. Doch der gefeierte Regisseur hatte offenbar längst seinen eigenen Agentenfilm in der Hinterhand.
Dieser erblickt nun das Licht der Kinowelt. TENET ist so etwas wie Christopher Nolans Version eines modernen Agententhrillers geworden. Die Verweise auf die Welt von James Bond und Co. sind dabei nicht zu übersehen. Der Film weist zahlreiche Ingredienzien auf, die schon die klassischen Agentenfilme der 1960er und 1970er Jahre berühmt gemacht hatten. Spektakuläre Schauplätze, mondäne Frauen, überlebensgroße Bösewichte und rasante Autoverfolgungsjagden sind auch in TENET zu sehen. Doch wie man es von Christopher Nolan kennt, findet er auch diesmal einen etwas anderen Zugang. Lediglich auf die Casino-Szenen, die in zahlreichen Bond-Filmen nicht fehlen dürfen, hat der Brite verzichtet. Während alle Darsteller des Geheimagenten ihrer Majestät bisher ihre Fähigkeiten in einem der großen Casinos bei Roulette, BlackJack oder Poker beweisen durften, muss John David Washington darauf verzichten. Dafür hat der Sohn von Hollywood-Star Denzel Washington in den rund zweieinhalb Stunden auch gar keine Zeit. Schließlich geht es für ihn um nicht mehr und weniger, als die ganze Welt zu retten.
Die geheimnisvolle Organisation Tenet heuert einen namenlosen Geheimagenten, der im Film nur der Protagonist genannt wird, an. Er soll den dritten Weltkrieg verhindern. Schnell stellt er fest, dass die Realität, wie er sie zu kennen glaubt, nicht existiert. Offenbar hat jemand eine Möglichkeit gefunden den Fluss der Zeit für einzelne Objekte umzukehren und nutzt dies für seine Zwecke. Pistolenkugeln, die noch nicht abgefeuert wurden, kehren in die Waffe zurück. Feuer wird zu Eis und der vorerst noch gesichtslose Gegenspieler scheint immer einen Schritt voraus zu sein. Die scheinbar unveränderbare Zeit beginnt ein Eigenleben zu führen.
Christopher Nolan setzt in TENET neuerlich auf eines seiner Lieblingsthemen. Er spielt mit dem Konzept der Zeit, wie schon zuvor in MEMENTO, INCEPTION und INTERSTELLAR. Damit fordert er seine Zuschauer wie gewohnt heraus. Den Schlüssel zum Verständnis des wissenschaftlichen Unterbaus von TENET liefert der Regisseur im Film gleich selbst. Er fordert dazu auf nicht alles verstehen zu wollen, sondern zu fühlen. Das ist streckenweise auch notwendig, denn der Film rast förmlich dahin. Da bleibt keine Zeit für langes Nachdenken. Die Referenz an James Bond vereint viele Inhalte, die man aus den Agentenfilmen kennt und macht doch alles anders. Was sich die Bond-Macher bis heute nicht getraut hatten, setzt Nolan um.
Er schickt einen schwarzen „James Bond“ auf die Reise und stellt ihm eine 1,90 große Frau zur Seite, die den ganzen Film über konsequent High Heels trägt. Sein Bösewicht hat jenes Charisma, das den meisten Bond-Filmen seit vielen Jahren fehlt. Wenn Christopher Nolan zwei Zeitrichtungen parallel ablaufen lässt, entstehen Szenen, die man so noch nie auf der Leinwand gesehen hat. In den Kampfszenen wurde nicht getrickst. Ganz im Gegenteil, Nolan ließ seinen Hauptdarsteller den Ablauf rückwärts trainieren, wie man in einem „Making of" auf YouTube sehen kann. In den spektakulärsten Actionszenen sparte der Regisseur nicht am Budget. Er ließ tatsächlich ein echtes Flugzeug in ein Gebäude krachen. Selbst beim Soundtrack ging der Brite neue Wege. Ludwig Göransson, der schwedische Komponist und Oscarpreisträger für BLACK PANTHER, unterlegt TENET mit einer lauten, manchmal verstörenden Soundkulisse und hebt auch dadurch den Streifen aus der Masse der gesichtslosen Actionfilme heraus.
Wenn der Abspann läuft, hat Christopher Nolan eines erreicht. Man möchte den Film mit dem Wissen der ersten Sichtung sofort noch einmal sehen, um die zahlreichen Hinweise auf die Umkehrung der Zeit besser zu erkennen und beurteilen zu können. Mit seinem ersten Agententhriller ist Christopher Nolan ein Mindfuck erster Güte gelungen. Freunde des stromlinienförmigen Actionfilms werden überfordert sein. Wer herausforderndes Kino schätzt, bekommt jede Menge zum Sehen und Nachdenken serviert. Seit seinem ersten Film FOLLOWING fordert der Regisseur sein Publikum. Das mag nicht jedem gefallen, aber es macht den Besuch im Kino erst interessant.
Ein Beitrag von Yana