DRAMA/DOKU: USA, 2003
Regie: Jonathan Caouette
Darsteller: -
Seit er elf ist, filmt Jonathan Caouette sein Leben: In Form von Super-8-Filmen, Familienfotos, Schnappschüssen und Videotagebüchern entsteht ein Portrait eines mittlerweile dreißigjährigen Mannes und seiner kaputten Familie.
KRITIK:Erschütternd. Das ist das erste Wart, das mir zu diesem Film spontan einfällt.
Das mag sich auch Indiefilm-Ikone Gus Van Sant gedacht haben, der hier als ausführender Produzent aufscheint. Tarnation, formal ein experimenteller Dokumentarfilm, der auf einem simplem Apple-Computer mit der Standard-Softwore iMovies geschnitten wurde, avancierte zum Festival-Hit und wurde mit Preisen überhäuft.
Völlig zu Recht. Einen ehrlicheren, eindringlicheren, berührenderen, aber auch befremdlicheren Film als Tarnation habe ich die letzten Jahre nicht gesehen. Schon der Einstieg lässt einen nach Fassung ringen: In raffinierten Bildmontagen, Texttafeln und mit atmosphärischem Indie-Sound unterlegt, erzählt Jonathan die Geschichte seiner Mutter: Ein lokal bekanntes Kindermodel, das eines Tages vom Dach des elterlichen Einfamilienhaus in Texas stürzte. Die temporäre Lähmung, die nach dem Unfall auftrat, wurde auf Anraten der Ärzte mit Elektroschocks "behandelt". Erst nach dieser brutalen Therapie traten bei seiner Mutter jene schwere psychische Störungen auf, die sich stetig verschlimmerten und sowohl ihr Leben als auch das ihres Sohnes ruinierten.
Doch Tarnation ist kein herkömmlicher Dokumentarfilm. Vielmehr handelt es sich um den Versuch eines schwer traumatisierten Menschen, seine Kindheitstraumata künstlerisch aufzuarbeiten. Die alte Binsenweisheit, dass psychische Krisen der Quell allen künstlerischen Schaffens sind, wird hier auf beeindruckende Weise bestätigt.
"Tarnation ist ein Film über Jugend, Kunst, Musik, Sexualität, Geisteserkrankung, Amerika und das Überleben. Er ist aber auch eine Liebeserklärung an meine Mutter"
sagt der Regisseur über seinen Film.
Bei all dem Elend, den Schicksalsschlägen und den schweren Misshandlungen, die dieser Mensch erlebt hat, erstaunt der versöhnliche Grundton: Während all die austauschbaren New Metal-Schreihälse ihre gewiss auch nicht lustigen Kindheitstraumata
bis zum jüngsten Tag in die Welt hinaus brüllen werden, macht Jonathan Caouette keinen verbitterten Eindruck:
Ein vorsichtiger Optimismus, der allen Widrigkeiten trotzt, durchzieht den Film.
Besonders bemerkenswert ist, welchen Stellenwert Popkultur im Leben von Jonathan Caouette einnimmt: Zwischen New Wave, Indie-Pop und Gothic-Styling, seinen ersten filmischen Gehversuchen im Amateur-Splatter-Fach und der New Yorker Queer-Community, in der Jonathan Caouette ein neues Zuhause gefunden hat, wurde Popkultur (in all ihren Facetten) zum Fluchtpunkt, zum Rettungsanker, zum Überlebensmittel und letztlich zur Therapie.
Ein tragischer, berührender, ungemein ehrlicher und letztlich auch optimistischer Film über eine traumatische Jugend, der zum übergroßen Portrait einer kaputten amerikanischen Familie wird. Ich vergebe die Höchstnote.