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Tár

Tár

DRAMA: USA, 2022
Regie: Todd Field
Darsteller: Cate Blanchett, Mark Strong, Julian Glover, Nina Hoss, Noémie Merlant

STORY:

Aufstieg und Fall einer toxischen Dirigentin.

KRITIK:

Zu Beginn sonnt sie sich im Scheinwerferlicht. In epischer Breite lässt ein Journalist des New Yorker Lydia Társ unglaubliche Karriere Revue passieren: Die erste Frau am Dirigentenpult der Berliner Symphoniker. Kein renommierter Musikpreis, den sie nicht gewonnen hätte. Leonard Bernstein war ihr Mentor usw. usf. Lydia Tár (in der Rolle ihres Lebens: Cate Blanchett) wirkt charismatisch, charmant und witzig, ganz und gar kein hochsensibles Snowflake-Geschöpf, das einen Selbstschutz-Panzer aus Arroganz und Unnahbarkeit vor sich her trägt. So, denkt man sich naiverweise, muss ein erfülltes Berufs- und Künstlerleben aussehen: Enormes Selbstbewusstsein, gespeist aus Talent, Fleiß und professioneller Souveränität.

Doch der Eindruck täuscht, wie so oft. Und man weiß es ja schon vorab, dass der Film vom Zusammenbruch einer Künstler-Existenz handelt. Kleine Irritationen schleichen sich ein, das Bild der hyper-souveränen Künstlerin bekommt erste Risse: Hat sie da tatsächlich ihrer Lebensgefährtin die Herz-Medikamente weggenommen? Was sind das für Geräusche in ihrem Apartment, die sie Nacht für Nacht wach halten? Hört noch jemand diese gellenden Schreie, oder sind es Stimmen in ihrem Kopf?

Fast drei Stunden dauert TAR, und er erfordert höchste Konzentration. Der Film ist natürlich in allen Kategorien - Schauspieler, Kamera, Licht, Ton, Schnitt atemberaubend brillant. Regisseur Todd Field (IN THE BEDROOM, LITTLE CHILDREN) erzeugt einen filmischen Sog, der nichts weniger will als dich zu verschlingen. Das stilistische Motto lautet wohl: Eleganz durch Reduktion. Wenn man Vergleiche bemühen will: Als hätte der späte Michael Haneke ein Remake von BLACK SWAN gedreht. Mit Orchester statt Ballett.

Und dennoch habe ich nicht das Gefühl, den Film gleich noch ein zweites Mal sehen zu müssen wie zuletzt BABYLON. Man verlässt das Kino - und nur dort sollte man TAR sehen - ziemlich erschöpft. Aber auf eine angenehme Weise. Ein Film, der deine grauen Zellen in alle erdenklichen Richtungen stimuliert. Und natürlich so schnell nicht loslässt. Es geht um Machtmissbrauch, um Identitätspolitik, um Cancel Culture, um Shitstorms. Also um nichts weniger als um unsere mediale Gegenwart.

Life imitating art: Der Film ist selbst zum Opfer eines kleinen Shitstorms geworden. "#Genderbias vom Feinsten: da macht ein Mann einen Film über "die erste #Dirigentin Deutschlands" ("#TAR") und erzählt eigentlich nach dem Muster des #Missbrauchsskandals um den Dirigenten James #Levine und weitere #metoo Fälle. Der Regisseur überträgt die Geschichte auf eine weibliche Karriere, mit lesbischer Geliebten. Was sagt uns das über #patriarchale Muster im #Musikbusiness? Man könnte es als fiese Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse lesen!"
(Ursula Berner, Kultursprecherin der Wiener Grünen in einem öffentlichen Facebook-Posting)

Ich teile diese Sichtweise nicht, aber halte sie grundsätzlich für argumentierbar. Zumal der Film den Diskurs ja auch bewusst einfordert. Bloß verlaufen Diskussionen im Netz im seltensten Fall konstruktiv. Unter dem Posting finden sich über hundert Kommentare, fast ausschließlich von Frauen, eine empörter als die andere. Sie alle versichern sich gegenseitig, diesen Film "von einem Mann" aus Prinzip nicht anzusehen, zumal er auch "total fad und schlecht" sein soll, rein vom Hörensagen her.
Ein Mann, nennen wir ihn mal Ladstätter, wagte es daraufhin anzumerken, dass ihn solche "fundierten" Kommentare an die katholischen Nonnen erinnern, die in den Achtziger Jahren gegen Martin Scorseses Die letzte Versuchung Christi mobilisiert hatten, selbstredend ohne den Film gesehen haben.
Der ist dann ein herablassender Macho, der "keine Ahnung von Feminismus" hat. So wird es wohl sein.

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FAZIT:

Kann ein Film mit sechs Oscarnominierungen schlecht sein? Ja, und "total fad", wenn man sich auf die "Expertise" empörter Facebook-Diskutantinnen (absichtlich kleines i) verlässt, die den Film gar nicht gesehen haben und sich nur über den angeblichen Affront echauffieren, dass hier eine Frau zur #metoo-Täterin wird. Für weniger empörungsaffine Filmfans gilt: Ab ins Kino. Todd Fields Charakterdrama einer Dirigentin, die über Leichen geht, ist formal nicht weniger als atemberaubend.

WERTUNG: 8 von 10 Stoffbären
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