OT: Il y a longtemps que je t'aime
DRAMA: F/D, 2008
Regie: Philippe Claudel
Darsteller: Kristen Scott Thomas, Elsa Zylberstein, Serge Hazanavicius
Bei einem festlichen Abendessen im Freundeskreis taucht Léa mit der charmanten Juliette auf, die sie als ihre Schwester vorstellt. Keiner der Freunde hat Juliette jemals zuvor gesehen oder auch nur von der Existenz einer Schwester gehört. Diskrete Verwunderung macht sich breit. Als einer der Gäste, schon ziemlich betrunken, die Schwester vor der ganzen Gesellschaft zur Rede stellt, woher sie plötzlich aufgetaucht sei, sind die Freunde peinlich berührt. Denn keine der Schwestern scheint die Frage beantworten zu wollen. Juliette löst die Situation schließlich locker mit dem Kommentar auf: "Ich war 15 Jahre wegen Mordes im Gefängnis." Die Gäste lachen und damit ist der Abend gerettet. Nur wenige Gäste am Tisch lachen nicht - die wissen, dass Juliette die Wahrheit gesagt hat.
KRITIK:Das ist eine der stärksten Szenen in der Geschichte von Juliette und ihren Bestrebungen, nach 15 Jahren Gefängnis in ein normales Leben zurück zu finden. Léa nimmt sie bei sich und ihrer Familie auf, obwohl sie die fast vergessene Schwester kaum kennt - bei ihrer Inhaftierung war sie noch ein Kind. Die Eltern haben einiges zur Entfremdung der Geschwister beigetragen, denn sie haben Juliette praktisch verstoßen und den Kontakt unterbunden.
Beim Versuch einen Job und eine Wohnung zu finden ist Juliette mit den Schwierigkeiten einer Haftentlassenen konfrontiert. 15 Jahre Gefängnis haben Juliette zu einer Soziopathin gemacht, die mit anderen Menschen nur schwer zurecht kommt. Im Zentrum des Films steht aber das fragile Verhältnis zu ihrer Schwester, das zunächst durch starkes Mißtrauen geprägt ist. Viel mehr gibt es über den einfachen Plot dieses Films nicht zu sagen. Aber SO VIELE JAHRE LIEBE ICH DICH hat viel mehr zu bieten als eine Story.
Die Darstellung von Kristen Scott Thomas wurde von der Presse euphorisch gefeiert und gerade mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. Und das völlig zu Recht. Die sonst eher auf die mondäne Dame der höheren Gesellschaft abonnierte Schauspielerin überzeugt hier auf der ganzen Linie mit dunkel gefärbtem Haar und Mauerblümchen-Kostüm. Ihre konzentrierte, zurückhaltende Darstellung zeichnet einen ambivalenten, erstaunlich vielseitigen Charakter.
Schon ihr Schauspiel alleine macht diesen Film zu einem Erlebnis. Aber auch ihr Gegenüber, Elsa Zylberstein als Schwester Léa, wird sich mit dieser Rolle hoffentlich in einige europäische Großproduktionen gespielt haben - denn auch diese Schauspielerin würde man gerne öfter sehen.
Obwohl Regisseur und Autor Philippe Claudel ursprünglich aus der Literatur kommt, hat er eindeutig ein Händchen für Schauspieler-Führung. Das spröde Thema hätte leicht zu einer tristen Milieustudie werden können, aber er interessiert sich viel mehr für die Figuren als für ihre sozialen Umstände.
So erschafft er zwar nicht gerade einen "Wohlfühlfilm", aber eine Charakterstudie, bei der den Figuren auch viel Raum für positive Entwicklungen bleibt. Trotz aller Tragik von Juliettes Schicksal dürfen wir ihr dabei zuschauen, wie sie zögerlich wieder mit Männern zu flirten beginnt oder, wenn auch etwas ungelenk, Freundschaften knüpft.
Dazu beweist Claudel noch ein gutes Gespür für Timing und Dramaturgie, denn er versteht es hervorragend Geheimnisse zu bewahren und im richtigen Moment zu lüften. Die Umstände von Juliettes Haft und ihrer Herkunft werden erst nach und nach preisgegeben und erzeugen so einen subtilen Suspense. Gerade das, was nicht gezeigt wird, steigert die Empathie des Zuschauers mit den Figuren sukzessive.
Leider bemüht sich Claudel am Ende allzu sehr um einen dramataturgischen Schlusspunkt und liefert damit um eine allzu deutliche Auflösung. Was der Zuschauer längst weiß, wird ihm noch einmal aufs Auge gedrückt. Manch einer wird das vielleicht emotional befriedigend finden, aber ein offeneres, loseres Ende hätte der Glaubwürdigkeit der Charaktere sicher gut getan. Das ist das einzige Manko in diesem wunderschönen Film.
SO VIELE JAHRE LIEBE ICH DICH ist ein filmischer Hochgenuss und eine große Empfehlung. Er macht Lust auf mehr von Philippe Claudel - und natürlich mehr Kristen Scott Thomas.