HEIMATTHRILLER: CH/A/F, 2010
Regie: Michael Steiner
Darsteller: Nicolas Ofracek, Roxane Mesquia, Andrea Zogg, Joel Basman
1975 in den Schweizer Alpen. In einem Bergdorf erhängt sich ein Messner. Gerade dann taucht ein völlig verwildertes, stummes Mädchen auf. Im Dorf gilt sie als Mörderin und Dämonin. Nur der Polizist Reusch nimmt sich ihr vorbehaltlos an und versucht herauszubekommen, wer sie ist ...
KRITIK:Jetzt heißt es zuerst einmal durchatmen, den Schweiß von der Stirn wischen und einmal kurz leicht verrückt aufzulachen um die Spannung abzubauen. Bist du deppert, das war ein saftig-derber Genrecocktail mit wahrem Herzschlagfinale, den uns die Schweizer da präsentiert haben. Obwohl ich natürlich gleich sagen muss, es handelt sich um eine österreichische Koproduktion, natürlich hat Kreativgenie David Schalko mit seiner Produktionsfirma Superfilm da auch seine Finger im Spiel, wie übrigens viele andere auch, da dieses Projekt Regisseur Steiner fast das letzte Hemd gekostet hätte. Wäre die Constantin Film nicht eingesprungen, hätte dieser wiederum 2 Millionen Euro Schulden angesammelt und einen nur halbfertigen Film in petto gehabt.
Also ein wahrer Kraftakt dieses Werk, der das in weiten Teilen der Alpen grassierende Sagenmotiv rund um die Sennentuntschi (Einsame Senner auf der Alm basteln sich eine Frauenpuppe, die schließlich lebendig wird und sich für die an ihr ergangenen Schandtaten rächt) verwendet um einen blutig, brutalen, derb zulangenden Sagenthriller mit Anleihen am Horror-, Western- und Backwoodgenre und ein bisschen Kommentar zu gewissen gegenwärtigen gesellschaftlichen Themen, die jetzt aber um Spoiler zu vermeiden, nicht näher genannt werden, zu kreieren.
Das Sagenmotiv tauchte immer wieder in der Kunst auf, zum Beispiel in einem laut Wikipedia "erotischen Dialektspiel" des Schweizer Dramatikers Hansjörg Schneider, welches bei seiner Erstausstrahlung zu wütenden Protesten in der Schweiz führte, man sprach von Gotteslästerung, aber lustigerweise nicht wegen der freizügigen Sexualität, sondern weil einer Puppe Leben eingehaucht wurde. Auch der hier auf filmtipps.at rezensierte Sukkubus - Den Teufel im Leib ist eine freie Verarbeitung des Stoffs.
Man denkt es sich vermutlich eh schon, und ich will nicht noch länger um den heißen Brei sprechen, ich fand diesen Film einfach hinreißend.
Gut, schnell die zwei Schwachpunkte abhandeln, damit wir das hinter uns haben.
1.) Die Sprache. War im Trailer noch das originale Schweizer Deutsch zu hören, bekommen wir (ich nehme an österreichisches und deutsches Publikum) eine weichgespülte pseudohochdeutsche synchronsierte Version zu hören, die dem Film sicher einiges an Wirkung nimmt. Andrerseits freue ich mich schon auf die DVD-Sichtung, das macht den Film dann beim zweiten Mal umso interessanter.
2.) Die Handlung. Ja, manchmal ist es einfach zuviel des Guten. Die eigentlich unnötige Rahmenhandlung sei jetzt mal akzeptiert. Viel eher hätte dem eigentlich ohnehin auf Zug inszenierten Film hier und da eine gewisse Straffung gut getan, weil er in seinem zweiten Drittel irgendwann ein wenig ermüdet, was aber zugegebenermaßen eben auch an der Inszenierung liegen könnte, die nicht durch Langeweile, sondern ganz in Michael Bay Manier durch Hyperaktivität erschöpft.
Aber daneben war und ist Sennentuntschi eine zum Niederknien aufregende, atmosphärisch dichte, top inszenierte Achterbahnfahrt in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele, gleichzeitig mit einer solchen Begeisterung am Unsinn gefertigt, dass man dem Film nicht böse sein kann. Ja, es ist ein "schlechter" Film, wie man so schön sagt, aber aus vollstem Herzen. Das ist einfach perfektes Genrekino, wo man an jedem Meter Filmrolle das Herzblut spürt, das die Macher in ihn gesteckt haben. Die derb-archaischen Handlungen der eigentlich trotzdem sehr menschlich und komplex gezeichneten Figuren werden mit einer solchen Inbrunst gespielt, dass sich sogar Anthony Hopkins warm anziehen muss. Die schaurig schönen Bilder tun ihr übriges um aus Sennentuschi einen schwungvollen Trip ins Herz der Finsternis zu gestalten.
Ich kann nur sagen, das deutschsprachige Genrekino lebt. Sennentuntschi darf sich in eine Reihe mit Tattoo, Anatomie, In drei Tagen bist du tot (1 und 2), den Brenner-Filmen und Die Siebtelbauern (wenn ich den jetzt dazugeben darf) stellen.
In diesem Sinne: "O saeculum! O arte! Iuvat vivere!"
Mit seinem wüstend Mix aus verschiedensten Genrelementen ist Sennentuntschi eine herrliche und aufregende Reise in ein schauriges und durch viel Lokalkolorit und gefühlte inszenatorische Begeisterung wahnsinnig vergnügliches Filmuniversum geworden. Da bleibt mir nur zu sagen: Werte Leser, seht euch diesen Sagengruselschocker an, versäumt ihn nicht, und zwar auf der großen Leinwand. Das ist ein Befehl!
Kinostart: 8.7.2011