OT: Shi
DRAMA: SüDKOREA, 2010
Regie: Lee Chang-Dong
Darsteller: Yun Jeong-Hee, Lee Da-Wi, Kim Hui-Ra, Ahn Nae-Sang, Kim Yong-Taek
Die elegante Yang lebt in ihren Sechzigern ein recht einfaches Leben als Krankenpflegerin und zieht gleichzeitig auf ihren Enkelsohn auf. Sie möchte sich ihren lange gehegten Traum erfüllen und Dichterin werden, weshalb sie einen Volkshochschulkurs in Poesie belegt. In der Folge muss sie erkennen, dass ihr Traum reine und fröhliche Gedichte zu schreiben scheitert, und ihr Leben seine geordneten Bahnen verlässt. Sie hat Alzheimer und ihr Enkel stellt sich als Beteiligter an einem schlimmen Verbrechen gegen ein Mädchen, das in der Folge Selbstmord beging, heraus. Wie soll man dafür die richtigen Worte finden?
KRITIK:Der Film Poetry des gefeierten koreanischen Filmkünstlers Lee Chang-Dong ("Secret Sunshine"), der dieses Jahr in Cannes den Drehbuchpreis gewinnen konnte, ist trotz seines gemächlichen Tempos und seiner einfachen Geschichte eine unglaublich komplizierte und vielschichtige Angelegenheit geworden.
Es beginnt damit, dass der Regisseur einen unglaublich behutsamen Zugang zu seinen Figuren wählt. War es in Korea vor der Verwestlichung nicht üblich sich selbst als Individuum vorzustellen, sondern sich über seine Beziehungen zu definieren, lässt uns Chang-Dong einige Minuten im unklaren darüber, wer überhaupt der Protagonist ist. Wir bekommen ein kleines Panorama der Umgebung und Umwelt, eine kleine Ouverture über die Gesellschaft in nächster Nähe zur unseren Hauptdarstellerin, die nichts weiter zu sein scheint, als ein beweglicher Knotenpunkt in einem Netzwerk, das sich andauernd auflöst und neu formiert. Faszinierend ist dabei wie naturalistisch diese Szenen wirken, wie echt und ungekünstelt, eine Fähigkeit, die nicht jeder Regisseur hat.
Dann endlich erfahren wir mehr über Yang, über ihre Arbeit als Pflegerin bei einem Schlaganfallpatienten, über ihr überschaubares Leben und ihren pubertierenden Enkel, der kaum spricht und sich jedes Jahr ein neues Handy wünscht, das sich Yang beim besten Willen nicht leisten kann.
Trauriger Höhepunkt ist ihre Diagnose, das Wissen um ihr baldiges Ende. Ihr Wunsch Poesie zu verfassen ist ein letztes Streben nach Bedeutung und ein letzter Versuch sich seine Wünsche zu erfüllen. Ihr vollkommen naiver Zugang bietet Platz für reichlich Komik, ohne jedoch die Figur bloßzustellen. Der wahre Künstler, der in seiner arroganten Weise die vermeintlichen Gesetzte des kreativen Schreibens verhöhnt, bekommt auch seinen Platz im Film, und wirkt dabei genauso naiv, wie unsere Protagonistin, die streng nach Lektion des Lehrers jeden Baum und jeden Apfel studiert um sich die Muse herbei zu zwingen.
Wie so oft ist es aber die Tragik des Lebens, die uns unser Innerstes herauskehren lässt. Es stellt sich heraus, dass ihr Enkel und ein paar seiner Freunde über Monate ein Mädchen bedrängt und vergewaltigt haben, welches schließlich Selbstmord beging. Die Familien möchten sich freikaufen und bieten der Mutter der Verschiedenen Geld an, Geld, das Yang niemals aufbringen kann, wodurch sie sich die Lage noch weiter verkompliziert.
Der Film gewährt einem Nicht-Koreanischen Zuseher erstaunliche Einblicke in die koreanische Lebenswelt und wirkt dabei an mancher Stelle beinahe schon zu fremdartig. Durch all diese kulturelle Distanz ist es hin und wieder gar nicht so einfach die Motivation und Façon mancher Figuren nachzuvollziehen geschweige denn zu billigen. Ich hoffe hierbei nicht in orientalistische Gefielde abzugleiten, aber Schuld scheint kein Thema zu sein in Teilen der koreanischen Gesellschaft, was aber auch kein Wunder ist, denn das Christentum ist dort (noch) nicht sehr verankert.
Es heißt ja, während das christliche Europa eine Schuldkultur ist, wo das Gewissen als moralische Instanz dienen soll, sagt man einigen asiatischen Regionen nach sogenannte Schamkulturen zu sein, wo eben nicht das Gewissen, sondern die öffentliche Wertschätzung das höchste Gut darstellt. Solange man also nicht das Gesicht verliert, ist alles in Ordnung.
Es ist mir eigentlich gar nicht klar, ob Koreaner, die diesen Film sehen sich dieses Elementes bewusst sind, aber dem "westlichen" Rezipienten bietet dieser Handlungsstrang eine gleichzeitig faszinierende und auch befremdliche Dimension, die doch innerlich etwas nachwirkt. Wir Menschen denken, handeln und fühlen nun einmal nicht auf die gleiche Weise. Und wenn uns dieser Film eines lehrt, dann dass der Schmerz und die Tragik des Lebens universell sind, unsere Bewältigungsstrategien jedoch grundverschieden.
Nach "Mother" kommt der nächste südkoreanische Film mit einer starken Rolle für ältere Frauen. Die großartig aufspielende (eigentlich Sängerin) Yun Jeong-Hee und ihr Regisseur Lee Chang-Dong führen uns durch einen tragisch-poetischen Film, für Menschen die noch hinsehen wollen und können, der so nahe an der Wirklichkeit zu sein scheint, dass wir die schreckliche Schönheit des Daseins an unserem ganzen Körper spüren können, während wir die bezaubernde Yang auf ihrem letzten Weg begleiten.