DRAMA: A/D, 2012
Regie: Ulrich Seidl
Darsteller: Margarethe Tiesel, Peter Kazungu, Inge Maux
Im ersten Teil seiner "Paradies"-Trilogie begleitet Ulrich Seidl eine österreichische Sex-Touristin nach Mombasa, Kenia, wo frau sich die Aufmerksamkeit und Zuneigung junger afrikanischer "Beachboys" kaufen kann.
"Wahnsinn! Do geniert man sich jo, doss man a Frau ist".
Nein, das ist natürlich kein Zitat aus dem Film. Das waren die ersten Worte der Dame mittleren Alters neben mir im Kinosaal, als der Nachspann über die Leinwand zog. Aus ihrem Tonfall sprach echte moralische Entrüstung, gepaart mit nackten Entsetzen über das soeben Gesehene. Und ich musste grinsen: Es ist also tatsächlich noch möglich, Menschen mit einem Film zu schockieren, der nichts tut, als die Realität abzubilden.
Ulrich Seidl hat sich aber auch wirklich Mühe gegeben. Der Film ist tatsächlich deutlich expliziter und voyeuristischer, als ich es erwartet hätte. Es gibt so zwei, drei Szenen, bei denen einem der Mund offen bleibt ob der "Zeigefreudigkeit" auf der Leinwand. Die Szene, in der ein junger Kenianer im Hotelzimmer strippt, stellt eine ähnliche Sequenz in IMPORT/EXPORT deutlich in den Schatten. Okay, echter Sex im europäischen Arthouse-Kino ist nun auch keine Sensation mehr, aber das, was hier abgezogen wird, sprengt den Rahmen des Gewohnten nun doch einigermaßen deutlich.
Weil Ulrich Seidl bekanntlich nur einen Bruchteil des Materials, das er dreht, für den Film verwendet, tät's mich nicht wundern, wenn irgendwann "Uncut"-Material seinen Weg vom Boden des Schneideraums auf youporn finden würde.
Respekt jedenfalls vor dem Mut und der Scheiss-mich-nix-Attitüde der Darstellerinnen. Auch die Tatsache, dass Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel am Theater arbeitet "und donn sowos mocht", hat den Zorn der eingangs erwähnten Dame befeuert.
Ansonsten gilt auch für "Paradies: Liebe", was hier immer geschrieben wird, wenn ein Seidl-Film zur Rezension ansteht: Dass der Regisseur hinblickt, wo es weh tut. Dass er seine Figuren nicht vorführt, sondern ihnen stets ihre Würde lässt. Selbst in Momenten des ärgsten Fremdschämens, wenn wohlstandsverwahrloste Überheblichkeit und kleinbürgerlicher Rassismus aus den Figuren rausbricht, dass man im Kinosessel versinken möchte. Ich sage jetzt nur: "Meinl-Mohr". Ein schönes Beispiel auch für den sehr eigenen, sehr finsteren Humor des Regisseurs, bei dem - bitte fünf Euro ins Phrasenschwein - einem das Lachen im Hals steckenbleibt. Und der ausserhalb der Grenzen von Schnitzelland natürlich gerne missverstanden wird.
"Salò with sunburn" schrieb das Branchenblatt Variety. Und der deutsche NEGATIVE FILM-Blog zog allen Ernstes Vergleiche mit Leni Riefenstahl(!). Dass das absurder PC-Blödsinn ist, muss man wohl nicht weiter ausführen.
Viel schöner ich es je sagen könnte, hat die Schriftstellerin Sibylle Berg "Paradies: Liebe" im letztwöchigen profil auf den Punkt gebracht:
"Wir sitzen atemlos da, bewundern die ständige künstlerische Weiterentwicklung dieses Regisseurs und die Meisterhaftigkeit, mit der er seine traurige Liebe zu unserer Menschenrasse choreografiert. Wieder hat Herr Seidl vermutlich jahrelang in Kenia Beachboys gecastet, sie mit Schauspielerinnen improvisieren lassen, wie immer gab es vermutlich ein Drehbuch, das aber außer Seidl nicht viele zu sehen bekamen, und auch wie immer verliebt man sich in die meisten seiner DarstellerInnen, weil sie auch in Momenten der Entblößung nie vorgeführt werden, sondern wie Kinder überfordert durch die Welt taumeln."
Paradies-Suche mit Ulrich Seidl, Teil 1: Ziel ist Kenia, wo sich europäische Sugar-Mamas afrikanische Beachboys kaufen. Kontroverser und expliziter als erwartet, und künstlerisch über jeden Verdacht erhaben. "Arthouse-Exploitation", wenn man so will. Pflichtfilm, jedenfalls.
In diesem Sinne: "Teresa, setz die auffe, es is dei Geburtstag!"