OT: Orugan
HORROR: Japan, 1996
Regie: Kei Fujiwara
Darsteller: Hasegawa Kimihiko, Kenji Nasa, Kei Fujiwara, Ryo Okubo
"Tokio 1996. Die Stadt riecht nach Tod", verkündet der Off-Sprecher zu Beginn und fügt hinzu, dass durch die nächtlichen Straßen Banden ziehen, die mit menschlichen Organen handeln. Ihre Ware entnehmen sie freilich dem grundsätzlich spendeunwilligen, noch lebenden Objekt. Die beiden Polizisten Numata und Tosaka planen den großen Schlag gegen eine dieser Banden, doch die Aktion geht gründlich schief. An deren Ende befindet sich Tosaka in den Händen der Organhändler und der überlebende Numata wird suspendiert. Doch sowohl Numata als auch Tosakas Zwillingsbruder haben Rache geschworen. Allerdings müssen sie sehr bald feststellen, dass ihre Gegner noch skrupelloser, geistesgestörter und mächtiger als erwartet sind...
"A Bio-Punk-Classic" verspricht das Cover. Was eine gewisse Schrägheit, wilde, anarchistische Ideen abseits der Sehgewohnheiten mit einem Schuss Body Horror impliziert. Doch angesichts der düsteren, alptraumhaften Schlachtbank aus Verstümmlung und Blut, die sich in den ersten zwanzig Minuten vor dem Auge auftürmt und uns gleich nach Vorspann in einen abgrundtiefen, mit Schmerzenschreien erfüllten Höllenpfuhl stößt, drängt sich ein anderer Vergleich auf: ORGAN ist Bio-Death Metal.
Oder aber, um bei den einhergebrachten Begrifflichkeiten zu bleiben: Body Horror, wie ihn einst die Herren Cronenberg und Tsukamoto geprägt haben. Plus einem Schuss medizinischen Alptraum aus dem Frühwerk Michael Crichtons (COMA). Allerdings hat ORGAN die Extraportion japanische Sickness; schwebt daher annährend in den Verstörungssphären der ALL NIGHT LONG-Reihe oder der (Ab-) artverwandten NAKED BLOOD und INFECTION.
Was manchen Filmkritiker -selbst einen renommierten, heuer jedoch nicht mehr ganz unumstrittenen Kultlexikon-Autor wie Frank Trebbin zu Sätzen wie diesem verleitet hat: "Aus Japan ist man ja schon einiges gewöhnt; dass man aber eine derart gewalttätige, blutig-abstruse Scheiße über sich ergehen lassen muss, grenzt wahrlich schon an die Behandlungsmethoden aus UHRWERK ORANGE..." Auf einen ähnlich negativen Tenor stößt man in vielen Besprechungen. ORGAN wurde vor allem die "billige Machart" und der spekulativ auf den Ekeleffekt hingetrimmte Gore-Einsatz angekreidet.
In meinen Augen tut man dem Werk Kei Fujiwara (Übrigens eine Dame und kein Mann, wie in einer dieser Reviews fälschlicherweise vermutet wurde...) damit Unrecht. Der Gore-Einsatz ist weit weniger selbstzweckhaft wie behauptet. Eine gewisse Kunstfertigkeit -auch wenn das Ergebnis unbestritten im Bereich des Nihilistischen liegt- kann man ORGAN ebenfalls nicht absprechen. Somit verdient es dieser Film eigentlich nicht in die Neo-Guinea Pig-Ecke zu den tatsächlich ohne größeren künstlerischen Nährwert abgefilmten Widerwärtigkeiten eines RED ACCOUNT oder GARDEN WITHOUT BIRDS gedrängt zu werden.
Nein. Der Hang zum Surrealen, der Wagemut zum Experimentiellen ist hier viel zu essentiell, als dass dieser Film auf plumpe Effektehascherei aus gewesen wäre. Viel mehr sehe ich Fujiwaras ORGAN in der Nähe der (frühen) Werken eines Shin'ya Tsukamoto. Mit diesem verbindet Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin Fujiwara ohnehin so einiges. Bevor sie ihre eigene Filme machte, spielte sie die weibliche Hauptrolle in dessen ersten filmischen Ausrufezeichen TETSUO.
Der Einfluß des Weggefährten ist unübersehbar. Nicht nur, dass sie Regie, Drehbuch, Kamera und Produktion gerne selbst in die Hand nimmt; nein, ihre Arbeit ist auch in der Wirkung durchaus vergleichbar. Experimentiell, visuell roh, unbarmherzig blutig und doch voller bedrückender Bilderkraft schmettert uns diese wütende Filmemacherin eine brutale Breitseite nach der anderen vor den Bug.
Wenn der Film nach seinem brachialen Einstieg scheinbar ruhigere (aber nicht minder dunkle) Gewässer befährt, ist dies nur die trügerische Ruhe vor dem Sturm. Ihr folgt das Hinuntergleiten in noch viel tiefere, deprimierendere Abgründe. Gegen Ende wird immer hemmungsloser noch größeren Abartigkeiten gefrönt. Spätestens, wenn schlussendlich zu eitrigen Geschwüren ein sexueller Bezug aufgebaut wird, wird es wohl auch dem letzten Hartgesottenen den Magen einmal gen Süden wenden.
Während andere Tabubrecher aus dem asiatischen Raum - Ich denke da vor allem an CAT III-Skandale wie EBOLA SYNDROME oder UNTOLD STORY - ihre Garstigkeit mit überdrehten wie albernen Humoreinlagen zu kaschieren versuchen, gibt es in ORGAN nichts, aber auch gar nichts zu lachen.
ORGAN zählt zu den durch und durch nihilistischen Vertretern des japanischen Splatterkinos. Ein Film, der immer wieder mit der linearen Erzählstruktur bricht, kleinere experimentielle Szenarien beschreitet, in denen der Geist des Undergrounds dann deutlich spürbar und Tabu ein Fremdwort ist. (Freilich habe ich in aktuellen Werke wie Timo Tjahjantos Episode L is for Libido aus der Kurzfilmsammlung THE ABCs OF DEATH graphischere Grenzauslotungen als im diesbezüglich allerdings ebenfalls nicht zimperlichen ORGAN gesehen, aber eine derart krude und bizarre Atmosphäre der Abartigkeit wie hier möchte auch erst einmal kreiert werden...)
Im wahrlich unappetittlichen Schlussdrittel wird das schier Unmögliche möglich gemacht und der Ekelfaktor weiter gesteigert. In Verbindung mit den durchweg kargen und heruntergekommenen Kulissen sowie einem kalten, beklemmenden Score wird aus ORGAN ein japanischer Sicko der wahrlich unbequemen Sorte.
Alles in allem kann ich nur unterschreiben, was Mondo Macabro-Mastermind Pete Tombs einmal über diesen Film gesagt hat: "ORGAN is not a film to see on a full stomach. Its fetid atmosphere of abnormality will have you screaming to be let out. And yet, you keep watching, fascinated..."
Suspendierter Bulle, skrupellose Organhändler, psychopathische Menschenmetzger. Willkommen in der Alptraum-Chirurgie! - Gift, Galle und vor allem Eiter spuckender, knüppelharter Japan-Sicko im Body Horror-Gewand. Ein zappendusterer, von Schmerzensschreien, Todesröcheln und einem eiskalten Score begleiteter Abstieg in jene Hölle, die punktgenau zwischen morbider Symbolik, bluttriefenden, improvisierten Operationssälen, ekelerregender Abartigkeit und blankem Nihilismus liegt. Geschrieben, inszeniert und fotografiert von Shin'ya Tsukamotos Weggefährtin Kei Fujiwara.