OT: Never let me go
SCI-FI/DRAMA: GB, 2010
Regie: Mark Romanek
Darsteller: Carey Mulligan, Keira Knightley, Andrew Garfield, Charlotte Rampling
Kathy, Tommy und Ruth wachsen ohne Eltern im nur scheinbar idyllischen Internat Hailsham auf. Unter der strengen Fuchtel von Oberlehrerin Charlotte Rampling lernen die Kinder alles, was sie fürs Leben wissen müssen. Viel ist das nicht: Die Kinder in Hailsham sind Klone, erschaffen für den einzigen Zweck, eines Tages ihre Organe zu spenden ...
KRITIK:Am Anfang des Films steht eine Texttafel. Im Jahr 1952 gelang die medizinische Sensation. Die Krankheiten der dunklen Zeit sind verschwunden; der Mensch kann über 100 Jahre alt werden.
Doch die Revolution hat ihren Preis. Welchen, das verkündet die Aushilfslehrerin Lucy ihren Schützlingen:
"None of you will go to America. None of you will work in supermarkets. None of you will do anything, except live the life that has already been set out for you. You will become adults, but only briefly."
Das muss man erst einmal wegstecken. Doch für die Klon-Kinder, die eben die schreckliche Wahrheit erfahren haben, wird das Leben hinter den Internatsmauern weiterhin seinen gewohnten Gang nehmen. Sie werden Musik hören, Bilder malen, Freundschaften schließen, sich verlieben, später einmal miteinander Sex haben, sich streiten, sich gegenseitig verletzten und betrügen und trennen und wieder versöhnen wie normale Menschen auch.
Und wie normale Menschen werden sie sich mit der Unausweichlichkeit ihres Schicksals abfinden. Abfinden müssen.
Doch ihr Tod wird sich grundlegend vom Sterben normaler Menschen unterscheiden.
Sobald sie das 30. Lebensjahr erreicht haben, müssen sich die Klon-Wesen der Gesellschaft, die sie als ihr Eigentum betrachtet, als Organspender zur Verfügung stehen. Die meisten dieser menschlichen Organ-Ersatzteillager "vollenden" nach der dritten Transplantation. "Completion" - Vollendung, so wird der Tod im zynischen, an Orwell angelehnten Neusprech des Films genannt.
Warum, verdammt, werfen die Jugendlichen nicht einfach ihre Scanner-Armbänder weg und rennen davon?
Das clevere, in Zusammenarbeit mit Kazuo Ishiguro, dem Autor der Romanvorlage erstellte Drehbuch sorgt dafür, dass man sich diese Frage nur kurzzeitig stellt.
Das Perfide an der Erzählung von Drehbuchautor Alex Garland (The Beach) ist nämlich, dass die effizienten Unterdrückungsmechanismen, mit denen die Klone in Schach gehalten werden, in keinster Weise gezeigt werden. Die Jugendlichen dürfen sogar den Führerschein machen und sich frei im Land - einem beklemmend vertraut wirkenden England mit seinen nebeligen Hügellandschaften und windigen Sandstränden - bewegen. Bis sie eines Tages ihre Einberufung zum ersten "Spendetermin" bekommen. Was den Anfang vom Ende ihres kurzen Lebens bedeutet.
Die hervorragenden Besprechung im Spiegel Online bringt den ganzen subtilen Schrecken des Films in zwei Sätzen auf den Punkt:
"So ist die größte Grausamkeit, die Kathy, Tommy und Ruth widerfährt, die vermeintlich humane Konditionierung von Kindesbeinen an: Sie haben kein Bewusstein für das Unrecht, das ihnen fortwährend angetan wird."
Mehr will ich von der Handlung auch nicht mehr verraten.
Nur so viel: Der Film muss wohl von der Papiertaschentuch-Industrie mitfinanziert worden sein, so unbarmherzig prügelt er auf das Gefühlszentrum der Zusehers ein. So tieftraurig und grausam die Geschichte ist, so konsequent wird sie auch erzählt. Es gibt keine unerwartete Wendung, keinen Aufstand, keinen Plot-Twist, keine Katharsis, kein Happy End, das einen erleichtert aus dem Kinosaal entlässt.
Im krassen Gegensatz zur kalten Grausamkeit des Stoffs steht jedoch die schwebende Leichtigkeit der Inszenierung. Ästhetische, leicht verwaschene Bilder, die atmosphärisch an die Arbeiten eines Gus van Sant erinnern, verleihen NEVER LET ME GO eine betörende, eine schaurige Schönheit, die einem die Tränen in die Augen treibt und die Gänsehaut auf den Rücken zaubert.
Formal ist der Film ein einziger Widerspruch in sich: Eine erschütternde Geschichte wird in wunderschönen Bildern erzählt. Der Science-Fiction-Plot spielt in der Vergangenheit und tarnt sich als feinfühliges Coming of Age-Drama. NEVER LET ME GO ist ein Film, der vielleicht an der Oberfläche konventionell wirkt, in Wahrheit aber mehr wagt als die meisten anderen Genre-Vertreter. Erzählerisch, stilistisch, inhaltlich sowieso.
Vergleiche? Nein, mir fallen beim besten Willen keine ein. Das mag sich jetzt pathetisch anhören, aber NEVER LET ME GO ist einfach größer als (fast) alles, was ich die letzten Jahre im Kino erleben durfte.
Es geht - schon wieder, werdet ihr sagen - um die ganz großen Themen: Um die Endlichkeit der Existenz, um die Unausweichlichkeit des Todes, um die Hoffnung, um Phantasie und - ganz trivial: um Popkultur als Fluchtmöglichkeit. Auch wenn dieser Vergleich auf jeder erdenklichen Ebene hinken mag: Eskapismus als Überlebensstrategie, dieses Motiv hat NEVER LET ME GO mit dem unterschätzten SUCKER PUNCH gemein.
In meinem Kopf, in dem ständig irgendwelche Filmbilder umherspuken, hat NEVER LET ME GO jedenfalls die beklemmendsten Momente aus THE ROAD, die mich monatelang bis in die Träume verfolgt haben, verdrängt. Ich denke, NEVER LET ME GO wird mich so schnell nicht loslassen. Und ich will das auch gar nicht.
Ein Science-Fiction-Film in der Vergangenheit. Ein erschütterndes Drama in atemberaubend schönen Bildern. NEVER LET ME GO hat mich erwischt und wird mir wohl noch lange im Kopf herumspuken. Höchstnote, die dritte in diesem Kinojahr. Wehe, ihr versäumt den!