DRAMA: USA, 2023
Regie: Ridley Scott
Darsteller: Vanessa Kirby, Joaquin Phoenix, Ben Miles, Ludivine Sagnier, Ian McNeice
Der Aufstieg des "korsischen Rüpels" zum Feldherrn, Diktator, Kaiser, Wahnsinnigen. Und der tiefe Fall.
Was wäre das Kino ohne die Männer jenseits der 80? Ich will, dass Ridley Scott, Martin Scorsese und Steven Spielberg ewig leben. Diese drei alten weisen Männer haben drei der besten Filme des Jahres gemacht. Und drei der längsten auch. Die aktuelle und gestraffte Kinofassung von NAPOLEON kommt auf eine stolze Laufzeit von 158 Minuten. Der angekündigte Director's Cut soll sogar die 4-Stunden-Grenze sprengen. Viel NAPOLEON also, viel Joaquin Phoenix, aber auch viel Vanessa Kirby, die den überlangen Film jedes Mal an sich reißt, wenn sie im Bild ist.
Joaquin Phoenix ist natürlich Hollywoods erste Wahl, wenn es um die Darstellung von beschädigten Männern geht. Was treibt Napolean Boneparte an? Wie tickt dieser Mann? Warum folgen ihm Millionen Menschen bereitwillig in den Tod? An seinem Charisma kann es wohl kaum gelegen haben: Die meiste Zeit schaut er teilnahmslos, schaßaugert und schläfrig unter seinem Doppelspitz hervor. Antworten gibt der Film keine, die Figur bleibt rätselhaft und unheimlich bis zum Schluss.
Es gibt aber glücklicherweise auch keine küchenpsychologischen Erklärungsversuche, keine Rückblende in die Kindheit, wo die bösen Nachbarsbuben den kleinen Napoleon ganz übel verprügelt haben. So dass er als Erwachsener gar keine andere Wahl hatte, "als Europa mit Feuer und Schwert zu verwüsten und hunderttausenden von Menschen den Tod zu bringen, ohne auch nur eine Ideologie, einen Glauben oder irgendeine Überzeugung als Ausrede vorbringen zu können. Im Gegensatz zu Hitler, im Gegensatz zu Stalin hatte Napoleon nur an sich selbst geglaubt, eine strenge Trennung zwischen sich selbst und dem Rest der Welt vorgenommen und die anderen als reines Werkzeug im Dienst seiner Herrschsucht betrachtet [..] Wie er im Morgengrauen über die Schlachtfelder spazierte, Tausende von verstümmelten oder aufgeschlitzten Leichen betrachtete und nachlässig bemerkte: Pah, eine Pariser Nacht bevölkert das alles wieder."
So schreibt Michel Houellebecq über Napoleon in seinem Roman ELEMENTARTEILCHEN, zu dem übrigens auch eine auf interessante Weise gescheiterte Verfilmung existiert.
Der Joker des Films sind eindeutig die erwähnten Schlachtszenen, aufwendige Choreographien des Todes. "Kriegskunst" nennen das die Geschichtsschreiber, ein Unwort eigentlich. 65 Schlachten soll Napoleon befehligt haben, der Film konzentriert sich auf fünf davon. Ridley Scott inszeniert mit allem Ausstattungspomp und allen visuellen Mitteln, die das moderne Kino aufbieten kann. Dabei gelingen ihm Szenen von bizarrer Schönheit, eigentlich auch ein Unwort in diesem Zusammenhang. Vor allem die Unterwasser-Aufnahmen der Schlacht von Austerlitz, die offenbar teilweise auf einem zugefrorenen See stattfand, haben bisweilen irre Dario Argento-Momente.
Ein überlanger, aber keineswegs langweiliger, kitschfreier Film, der ohne die hollywood-üblichen Trivialisierungen konventioneller Biopics auskommt. Hervorragende Schauspieler, düsterer, eleganter Look und Ausstattungspomp ohne Ende. Natürlich eine Empfehlung. Ridley Scott soll bitte ewig leben.