OT: Micmacs à tire-larigot
KOMÖDIE: FRANKREICH, 2009
Regie: Jean-Pierre Jeunet
Darsteller: Dany Boon, André Dussollier, Nicolas Marié, Jean-Pierre Marielle
Am Anfang knallt’s gleich zweimal. Das erste Mal als Bazils Vater von einer Landmine zerrissen wird und das zweite Mal 30 Jahre später, als sich die Kugel einer Straßen-Schießerei in dessen Kopf versenkt. Dadurch wird Bazil, der sich bis dato als Videothek-Angestellter durchs Leben geschlagen hat, zum Dauerinvaliden, verliert Wohnung und Job und lebt von nun an auf der Straße. Das Leben in der Gosse ist kein Zuckerschlecken und so hält er sich mehr schlecht als recht über Wasser, bis ein seltsamer Schrottverkäufer sich seiner erbarmt und zur "Familie" einlädt. Diese ist ein Ausbund an grenzwertigen Gestalten, die die Gesellschaft offenbar verstoßen hat (so genau wird das nicht erarbeitet) und in einem Verschlag unterhalb des Schrottplatzes lebt.
Von dort aus startet die "Familie" durchs sepia-gefärbte Paris auf der Suche nach Verwertbarem. Eines Tages findet Bazil dann auf seiner Müll-Sammel-Tour zufälligerweise die beiden waffenproduzierenden Firmen, die an seinem Schicksal schuld sind und beschließt sich an ihnen zu rächen. Der Guerillakampf gegen die übermächtigen Gegner beginnt…
KRITIK:Gut Ding braucht Weile. So oder so ähnlich könnte man vermuten, wenn man bedenkt, dass seit dem letzten Film des "Meisters der cineastischen Skurrilitäten" Jean-Pierre Jeunets (MATHILDE - EINE GROSSE LIEBE) fünf Jahre vergangen sind. Hat sich also was geändert? Auf den ersten Blick einmal nicht…
Jeunet verwendet wie gewohnt seine in der WUNDERBAREN WELT DER AMELIE zur Perfektion gebrachten Kameraeinstellungen (Weitwinkel!), Ãœberblendungen und Schnitttechniken. Die Szenerie ist - ganz STADT DER VERLORENEN KINDER - im geliebt vergilbtem Bilderbuch-Sepia und wie immer an der Grenze zum Surrealismus.
Natürlich darf auch die großartige Schauspielerriege nicht fehlen, mit denen der Regisseur seit DELICATESSEN all seine Nebenrollen besetzt. Dass es sich hierbei um Charaktere handelt, die so skurril sind, wie Vorarlberger, die Hochdeutsch sprechen, ist selbstverständlich. Die Konstellation für einen Kino-Hit ist also denkbar günstig, der jugendliche Filmkritiker-Azubi reimt sich in Gedanken schon die Lobeshymnen zusammen. Doch dann das:
Zum Ersten trant die Story vor sich hin wie ungarischer Aluminiumgiftschlamm. Gewiss - Jeunet baut wie immer seine von allen Fans geliebten Domino-Ketten an Ereignissen auf, in denen z.B. in STADT DER VERLOREN KINDER ein Floh die Ursache für die Versenkung eines ganzen Hafens war. Diesmal jedoch fallen die Steine nur äußerst mühselig, fast gequält und manchmal fehlt es überhaupt an (sinnvollen) Verbindungssteinen, wodurch die Handlung zum Erliegen kommt und was sich bei den Zuschauern mit verfänglichen Gähn-Nebenwirkungen manifestiert.
Außerdem will die große "Message" des Films, Kritik am Geschäft mit Kriegsarsenal, so gar nicht zünden. Wo LORD OF WAR mit bösartigstem Zynismus brilliert, versagt MICMACS kläglichst. Das Klamaukhafte der Charaktere passt in keinster Weise zu einer ernsten Betrachtung und so werden vor allem die Schlussszenen unerträglich.
Das Schlimmste ist aber, dass keinem der vielen Akteure Zeit gegeben wurde, damit der Zuschauer auch nur ansatzweise Empathie für sie gewinnen könnte: Lebensgeschichten, Hintergründe, Motivationen, Gedanken… - all dies bleibt unzureichend betrachtet und so pendeln die lediglich skizzierten Persönlichkeiten zwischen unverständlich, unnütz und nervig.
Die wohl obligatorische Liebesgeschichte zwischen Brazil und der Schlangenfrau wirkt dadurch auch aufgesetzt wie ein Hut von Vivienne Westwood zur aktuellen H&M Kollektion. Dabei wäre überall massig Potential vorhanden gewesen. Beispielsweise wird einem Bösewicht eine fürsorgliche Liebe zu seinem Sohn zugeschrieben, diese hat jedoch überhaupt keinen Einfluss auf den Charakter im späteren Teil des Films. Vielleicht ist ja das fehlende Film-Material im Original vorhanden und man hätte nur den übereifrigen Cutter rechtzeitig auspeitschen sollen - die Dramaturgie legt einem aber eher nahe, dass die Mängel einfach niemals erarbeitet wurden.
Vor sich hin dümpelnde Geschichte des Kampfes einiger Außenseiter gegen die große, böse Rüstungsindustrie. Stilistisch einwandfrei, freigeistig und streckenweise originell und doch bleibt am Ende nur Enttäuschung über eine durch unzureichende Detailerarbeitung viel zu früh abgewürgte cineastische Totgeburt, die den Bach der Filmgeschichte hinuntertreibt.