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Mein Bruder Kain

Mein Bruder Kain

OT: Raising Cain
PSYCHOTHRILLER: USA, 1992
Regie: Brian De Palma
Darsteller: John Lithgow, Lolita Davidovitch, Steven Bauer, Frances Sternhagen

STORY:

Gott, eine Inhaltsangabe zu MEIN BRUDER KAIN, Brian De Palmas völlig übersehenes und doch so prächtig hyperaktives Thriller-Kleinod? Und dies am zweiten Weihnachtsfeiertag, während meine kleinen Stammhalter ihre Weihnachtsgeschenke ausprobieren und das Wohnzimmer in eine Autorennbahn bzw. einen Affendschungel verwandelt haben? Wie soll man da den Irrwitz dieser vor bösen Überraschungen und verrückten Twists strotzenden Handlung in ein paar wenige treffende Worte packen? Zumal es in diesem Fall ohnehin angezeigt ist, dass der Zuschauer sich besser unbedarft in die mörderische Elternzeit des Psychologen Carter Nix und seinen vielen nicht immer freundlich gesinnten gespaltenen Persönlichkeiten begibt. Nur soviel: Der gute Mann muss sich nicht nur um das süße dreijährige Töchterchen kümmern, sondern nebenher auch ein paar Frauenleichen verschwinden lassen. Und auf Geheiß des psychopathischen Vaters fremde Kinder kidnappen, weil diese als Versuchskaninchen für psychologische Horror-Experimente benötigt werden. Als wäre das nicht schon Beschäftigung genug, stellt Carter auch noch fest, dass seine Gattin fremdgeht. Und logisch, dass er nicht zum Typ Ehemann gehört, der einen Seitensprung verzeiht…-

KRITIK:

Dissoziative Identitätsstörung. Kindesentführung. Grausige Experimente mit kindlichen Psychen. Rache eines gehörnten Ehemannes. Serienfrauenmorde. Und ein Psychopath in Polizeigewahrsam treibt böse Spiele…

Aus solchen Zutaten werden normalerweise sechs verschiedene Filme gebastelt. Der prominenteste Hitchcock-Fan der Welt Brian De Palma hat daraus nur einen gemacht: RAISING CAIN.

Diese 88 Minuten Film nennen sich bei uns MEIN BRUDER KAIN und gehören zu den weniger bekannten im Oeuvre von Brian De Palma.

Und das ist noch gelinde ausgedrückt. Obwohl RAISING CAIN chronologisch gesehen erst nach Klassikern und Perlen wie CARRIE, DRESSED TO KILL, SCARFACE oder DER TOD KOMMT ZWEIMAL in De Palmas Filmographie auftaucht, erfreuen sich sogar Frühwerke wie PHANTOM OF THE PARADISE oder SISTERS einer größeren Berühmtheit.

Andererseits war MEIN BRUDER KAIN an der Kinokasse auch nicht sonderlich erfolgreich. Und dies ist keine Frage der Qualität, sondern rein der Tatsache geschuldet, dass der Film alles andere als leichte Thrillerkost für die breite Masse darstellt. Zwischen Popcorneimer und süßer Cola platziert De Palma für die Kinder des Mainstreams gleich mehrere "WTF!"-Erlebnisse, die herkömmlichen Sehgewohnheiten kreuz zuwiderlaufen dürften. Ja, er macht es selbst den eingefleischten Fans seiner Thriller nicht ganz einfach. Weil MEIN BRUDER KAIN weder Horrorthriller nach TEUFELSKREIS ALPHA-Art ist noch eine weitere virtuose Verbeugung vor dem erklärten Vorbild Alfred Hitchcock.

Viel mehr gebärdet sich MEIN BRUDER KAIN tatsächlich so unberechenbar und manisch wie jemand, der sich gerade durch seine multiplen Persönlichkeiten switcht. Da sind wir nach dem Vorspann noch friedlich als Daddy in Elternzeit auf dem Kinderspielplatz und im nächsten Moment sitzen wir im Auto neben einer mit Chloroform betäubten Mutter und machen den Serienmörder, während auf dem Rücksitz zwei Kleinkinder schlafen. Große Einführungen spart sich De Palma diesmal. Er tritt das Gaspedal des Wahnwitzes gleich voll durch, denn Zeit ist kostbar, wenn man in 88 Minuten weitere Morde, polizeiliche Ermittlungen, eine untreue Ehefrau und einen wahrhaft sinistren Mad Scientist mit pechschwarzen Herz für Kinder einbauen muss.

Ähnlich wie die Handlung, die vor lauter Haken schlagen regelrechte Loopings dreht, wechselt auch die Inszenierung ständig das Gesicht. Manchmal ist MEIN BRUDER KAIN ein Thriller, der irgendwo zwischen genialer Selbstironie und unfreiwilliger Komik pendelt, bevor er einem urplötzlich die Faust in die Magengrube rammt und uns gleichzeitig einen unbequemen psychotischen Moment oder einen fiesen Schock ins Gesicht feuert. Kameraführung und Inszenierungsstil zeigen dabei immer deutlich De Palmas spezielle Handschrift.

Im Schlussdrittel beginnt De Palma dann äußerst raffiniert aus dem eigenen Fundus zu zitieren. InsbesondereDRESSED TO KILL wird immer wieder ins Gedächtnis des Zuschauers zurückgerufen und wenn der seinen De Palma kennt, dann wird er bald ähnlich böse grinsen wie es De Palma-Spezi John (SCHWARZER ENGEL) Lithgow in der Rolle des dissoziativ identitätsgestörten Carter des Öfteren tut. Apropos Lithgow: Der spielt seine Figur (oder besser Figuren - dank der multiplen Persönlichkeitsstörung ist Carter ja nie allein) irgendwo zwischen Genie, Wahnsinn und kultigem Overacting. Vor allem bei der Verkörperung von Carters gelehrten Psychopathendaddy stößt er gar in Lectorische Dimensionen vor. Zwischen Genie und Wahnsinn schwebt auch der ganze Film. Doch sind die Szenarien noch so irrwitzig; dank der Schützenhilfe von Stammkräften wie Stephen H. Burum (Kamera) oder Pino Donaggio (Musik) ist die Inszenierung jederzeit De Palma at his best.

In diesem Sinne: "It was Baumse! He did it again ..."

Mein Bruder Kain Bild 1
Mein Bruder Kain Bild 2
Mein Bruder Kain Bild 3
Mein Bruder Kain Bild 4
FAZIT:

MEIN BRUDER KAIN ist eine bislang sträflich übersehene Position in Brian De Palmas Filmographie. Dabei haben wir hier einen hyperaktiven Thriller, der aus gespaltenen Persönlichkeiten, der Rache eines gehörnten Ehemanns, Kindesentführung und Serienmord fröhlich Eintopf macht und auch vor der aberwitzigsten Wendung nicht zurückschreckt. Diesmal zollt De Palma Hitchcock nicht so offensichtlich wie sonst Tribut, sondern liefert viel mehr eine makabere, herrlich überdrehte Studie über eine gespaltene Persönlichkeit im Thrillerformat. Dabei geizt er weder mit augenzwinkernder Selbstironie noch mit raffinierten Eigenzitaten. Und vor allem nicht mit bösen Überraschungen. Ergo: Ein voller Momente steckender Geheimtipp im Oeuvre des Meisters…

WERTUNG: 8 von 10 gespaltenen Persönlichkeiten
TEXT © Christian Ade
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Dein Kommentar >>
Gregor | 29.12.2010 18:29
Spitzen-Review! Yeah, ich mag diesen durchgeknallten Film auch absolut gerne, wobei ich geren zugebe, dass es auch bei mir nicht Liebe auf den ersten Blick war... Aber weniger Hitchock, als sonst? Hm, die Szene mit dem versinkendem Auto ist z.B. original aus Psycho übernommen. Nur hat es sic der gute Brian natürlich mal wieder nicht nehmen lassen, auch da noch einmal kräftig einen drauf zu setzen. Fazit: Genialster Schwachsinn, wie man ihn einfach lieben muss!
Chris | 29.12.2010 18:43
Thanx! Ja, das sinkende Auto. Jetzt, wo du es erwähnst. Das ist natürlich Hitch pur. Danke für den Hinweis, dabei hab ich echt nicht an PSYCHO gedacht... : )
Nur hatte ich diesmal für den Film als ganzes keine offensichtliche Hitch-Entsprechung ausmachen können.Also nach der Formel: SCHWARZER ENGEL = Vertigo, DRESSED TO KILL = Psycho,DER TOD KOMMT ZWEIMAL = Das Fenster zum Hof, MEIN BRUDER KAIN = ?
>> antworten
Marcel | 29.12.2010 16:47
Der Chris gräbt mal wieder tief in meinen Erinnerungen. Damals im Kino gesehen, ich erinnere mich an Konfusion, die aber noch übersichtlich und verdaubar war, im Gegensatz zu Femme fatal (den ich aber mag, nicht falsch verstehen). Und an eine erneute Verbeugung gegenüber der legendären Kinderwagenszene aus Potemkin (und damit ein Selbstzitat aus Untouchables). Müsste ich auch noch mal sehen. Allein die Davidovich ist eigentlich Grund genug.
>> antworten
HomeMovieCorner | 29.12.2010 16:35
Ja, der Film hat wirklich viel Spaß gemacht...
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