DOKUMENTARFILM: USA, 2015
Regie: Laura Ricciardi, Moira Demos
Darsteller:
Steven Avery wird 1985 eines Verbrechens angeklagt und unschuldig verurteilt. Nach 18 Jahren kommt er aufgrund neuer Beweise frei. Er verklagt daraufhin den Manitowoc County. Zwei Jahre später wird er erneut inhaftiert und wegen Mordes vor Gericht gestellt. An den Ermittlungen sind die selben Leute beteiligt, die er aufgrund seiner Fehlinhaftierung verklagt hat ...
Ein Rechtssystem ist der Suche nach der Wahrheit verpflichtet. Stimmt´s? Kann ein Rechtssystem, das darauf ausgelegt ist, jemanden zu verurteilen, oder sagen wir besser, jemanden zur Rechenschaft zu ziehen, oder noch plakativer: etwas zu rächen, dieser Wahrheitspflicht nachkommen?
Ich hab´ lang überlegt, ob ich eine Kritik zu Making a Murderer schreiben möchte. Wohl aus mehreren Gründen: 1. Ich empfand diese Serie als so wichtig, dass ich gerne darüber schreiben wollte, auch damit sich noch mehr Leute mit dem Fall Steven Avery beschäftigen. 2. Stellte ich aber dabei fest, dass es mir irgendwie zuwider war, Making a Murderer anhand der "klassischen" Kriterien zu bewerten, die ich sonst bei einem Film oder einer Serie anwende, weil mir das Thema zu wichtig erschien, als es darauf zu reduzieren. 3. Glaube ich, dass ich mich zu einem Großteil in meiner Kritik mit ganz grundlegenden Fragen beschäftigen werde. 4. Hab´ ich mich gefragt, ob das gegenüber den Lesern fair sein wird. Ganz einfach, weil vielleicht keiner von ihnen meinen weltpolitischen Senf hören möchte. Diesen Lesern sei an dieser Stelle besser geraten, nicht weiterzulesen, ich werde nämlich nicht ohne auskommen. 5. Kann ich Making a Murderer überhaupt objektiv bewerten? Natürlich nicht, mach´ ich doch eh nie in meinen Kritiken. Objektivität ist ein Trugschluss.
Warum schreibe ich jetzt also doch eine Kritik zu Making a Murderer? Weil mir Punkt 1 in meiner Liste am wichtigsten erschien.
Mich hat Making a Murderer stark mitgenommen. Es war wirklich quälend, die Serie zu Ende zu schauen. Nicht, weil sie nich gut wäre - sie ist verdammt gut -, sondern weil der reale Horror viel schlimmer ist als all das erfundene Leid in fiktiven Filmen.
Realer Horror! Das wirkliche Leben. Ist das nicht immer viel erschreckender als jedes wilde Blutgespritze? Ist es nicht genau das, was uns erschaudern lässt, warum es uns kalt den Rücken runterläuft? Mir jedenfalls geht es so, und so einige Filme bedienen sich ja auch dieser Angst. In den letzten Tagen zucke ich sowieso oft zusammen, wenn ich mal wieder eine Flüchtlingshetze auf Facebook lese und mir dabei die Tränen in den Augen stehen, mehr als jedes fiktive Filmdrama mich zum Weinen bringt. Was ist nur aus Mitgefühl geworden? Oder war das schon immer eine Illusion? Ich frage mich so viel in letzter Zeit. Wie sind wir nur so geworden wie wir sind? Oder waren wir schon immer so? Lernen wir denn nie aus unseren Fehlern?
Wenn ich also wieder schulterzuckend, mit verweintem Gesicht am Abend eines langen Tages dasitze und mir Gedanken um die Welt machen, dann fällt mir leider nur eines ein:
Die Menschen haben es gründlich versaut!
Warum so pessimistisch? Irgendwie liegt das wohl auch ein bisschen in meiner Natur. Aber schaut doch mal nach rechts und links, nichts als Neid, Missgunst, Hass, Angst und Schuldzuweisungen. Weltschmerz, das sagen die Leute zu mir, ich habe Weltschmerz, und, ich könne nicht die ganze Welt retten. Aber irgendwo anfangen, das kann ich. Weil vielleicht doch ein kleiner Optimist in mir wohnt, andere würden sagen ein "Gutmensch".
Warum diese langen Ausführungen? Weil meine Kritik zu Making a Murderer nicht ohne diese Einleitung auskommt. Vielleicht bin ich auch nur egoistisch und nutze diese Plattform, um mir alles einmal von der Seele zu schreiben. Was zugegebenermaßen nicht fair den Lesern gegenüber ist, aber ich hatte ja eine Warnung zu Beginn ausgesprochen.
Ich habe im Sommer sieben Wochen in den USA verbracht, bin dabei rund 15.000 Meilen gereist und habe wirklich größtenteils jedes Klischee über Amerika bestätigt gesehen. Einfach jetzt jemandem den Buhmann zuzuschieben, wäre zu eindimensional. Generell halte ich nicht viel von Schwarz-Weiß-Denken, alles hat einen Rattenschwanz. Vorverurteilung ist genau das, was ich auf den Tod nicht ausstehen kann, jeder hat seine Geschichte und das Umfeld in dem du aufwächst prägt dich.
So auch Steven Avery, den wir wohl als White Trash bezeichnen würden, ich hab´ einige Leute in den USA gesehen, die man zu dieser Bevölkerungsschicht zählt, und ich hab´ auch die anderen gesehen, zu denen Teresa Halbach gehört. Somit ist schon zu Beginn eine klare Linie gezogen. Und ja, in den USA ist das eine reale Bedrohung für Leib und Leben, auf welcher Seite du stehst.
Letztens hab´ ich Freunde gefragt, ob es in den USA überhaupt ein seriöses unabhängiges Medium gibt. Gibt es eines? Fühlt sich hier überhaupt jemand der Wahrheit verpflichtet? Wie im amerikanischen Rechtssystem nur wichtig ist, dass jemand zur Rechenschaft gezogen wird, so zählt in den Medien nur noch die Schlagzeile. Vorverurteilung empört niemanden mehr. Nein, noch schlimmer, die Spekulationen der Medien werden für bare Münze genommen. Ist so ein fairer Prozess überhaupt noch möglich? Ich habe so viele Fragen in den letzten Tagen.
Im Zweifel für den Angeklagten?
Blanker Hohn! Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das schlimmste Übel unserer Zeit! Warum nimmt mich genau Steven Averys und Brendan Dasseys Fall so mit? Vieles nimmt mich mit, aber hattet Ihr mir nicht gesagt, ich könne nicht die ganze Welt retten. Und jetzt sei es lächerlich, sich darüber so viele Gedanken zu machen. Mal ganz ehrlich (das wollte ich schon so lange loswerden): Man verlangt von mir oft als Vegetarier alles im Leben richtig zu machen, ständig moralisch korrekt zu handeln, weil es ja sonst reine Doppelmoral wäre, Vegetarier zu sein. Alles müsse ich richtig machen, sonst wäre das ja verlogen. Nein, kein Mensch kann alles richtig machen, aber mit irgendetwas anfangen, das kann er. Ist es nicht besser irgendwo anzufangen und Schritt für Schritt weiterzumachen, als einfach gar nichts zu tun, mit der Begründung: Die ganze Welt kann ich doch eh nicht retten? Was für ein Blödsinn!
Ich versuche hier ohne Spoiler auszukommen, weil ich natürlich in erster Linie finde man sollte sich diese Serie ansehen. Damit ist es für mich zweitrangig, ob der Leser das eine oder andere weiß, aber dennoch möchte ich nicht spoilern, weil ich das einfach arschig finde. In diesem Fall ist es aber schwer, weil sich meine ganze Empörung auf ein, aus meiner Sicht, Fehlurteil bezieht. Und ich komme nicht drumrum, das nicht zu erwähnen.
Ich sehe einfach ständig nur eines vor Augen, dass du hilflos dem ausgeliefert bist, was dein Umfeld aus dir macht. Und dass genau in diesem Moment Menschen, und sicher nicht zu wenige, ihr Leben, das einzige Leben, welches sie haben, niemals leben können! Mehr möchte ich nicht verraten, auch wenn Making a Murderer auch sehenswert ist, wenn man über den Fall Bescheid weiß.
Ein bisschen möchte ich natürlich noch auf den Rahmen eingehen. Wie es dazu kam, dass die beiden Filmemacher sich mit dem Avery-Fall beschäftigten, kann jeder nachlesen, und ein bisschen selbst recherchierte Hintergrundinformation schadet auch nicht. Die beiden lassen jeden der sich zum Fall äußern möchte auch zu Wort kommen. Sie sammelten über 10 Jahre Material von den Gerichtsverhandlungen, führten Interviews mit Familie, Anwälten usw. Die Dokumentation kommt ohne Offtext aus, was eine gewisse Neutralität gewährt. Wie gesagt, Objektivität ist ein Trugschluss, das zeigt sich in allem. Wie zum Beispiel hier in meinem Text, was nicht weiter wehtut, außer ein paar Internet-Trolls vielleicht. Oder es zeigt sich in einem Gerichtsprozess, was fatale Folgen hat. Ich hab gelesen, Making a Murderer wird vorgeworfen zu wertend zu sein, für mich ist so viel Neutralität gewährt wie irgend möglich ist. Aber wenn etwas falsch läuft, dann läuft es falsch. Und: Im Zweifel für den Angeklagten!
Ein Kritiker erwähnt in seiner Rezension, dass Making a Murderer die bedeutendste Netflix-Eigenproduktion sei. Ich halte die Dokumentation auch für sehr bedeutend. Weshalb ich auch der Meinung bin, dass sie von so vielen Personen wie möglich gesehen werden sollte. Sagt sie doch viel über unsere Welt aus ... Und eines ist sicher: Jeder wird hierzu eine Meinung haben!
Making a Murderer ist das in letzter Zeit für mich mit Abstand Wichtigste was ich gesehen habe. Es hat mich auf einer emotionalen Ebene getroffen, dessen Ausmaß ich hier auch nicht nur ansatzweise wiedergeben kann! Die Serie hat mich schockiert, betroffen und sehr traurig gemacht. Eines hat sie mich aber auf keinen Fall: kalt gelassen!