DRAMA/SEXFILM: F, 2015
Regie: Gaspar Noé
Darsteller: Karl Glusman, Klara Kristin, Aomi Muyock, Benoît Debie
Es ist Neujahr, im Kino wie in Wirklichkeit. Filmstudent Murphy wird viel zu früh von einem Anruf geweckt: Seine Ex-Freundin Electra ist verschwunden, ihre Mutter befürchtet Schlimmes. Murphy begibt sich auf die Suche nach Electra und erinnert sich an das gemeinsame grenzen- und schrankenlose Liebesleben.
Murphy: "I want to make movies out of blood, sperm and tears. This is like the essence of life. I think movies should contain that, perhaps should be made of that."
Man benötigt nicht viel Phantasie, um aus diesem Zitat Gaspar Noé selbst sprechen zu hören. Gaspar Noé. Ich denke, der Regisseur von MENSCHENFEIND, IRREVERSIBEL und zuletzt ENTER THE VOID muss auf dieser kleinen Website nicht mehr extra vorgestellt werden.
Wenn Gaspar Noé einen Film über die körperliche Liebe ankündigt, in 3D noch dazu, und mit echten, unsimulierten Sexszenen, da sabbern und hecheln wir Filmtipps-Autoren wie die berühmten Hündchen von Professor Pawlow. Mit dem Musikvideo "Protege Moi", das Gaspar Noé für Placebo gedreht hat, in dem Porno-Darsteller mitwirken, haben wir uns vorab mächtig aufgeganselt. Ja, wir Filmtipps-Autoren gehen niemals unvorbereitet ins Kino. (Und wir sprechen gerne im Pluralis Majestatis.)
Geplant war LOVE ursprünglich als Nachfolge-Film von MENSCHENFEIND. Vincent Cassel und Monica Bellucci, die damals ein Paar waren, hätten die Hauptrollen spielen sollen, echten Sex inklusive. Cassel und Bellucci lehnten ab. Wer könnte es ihnen auch verübeln? Statt LOVE drehte Gaspar Noé IRREVERSIBLE und anschließend ENTER THE VOID. Auf den ersten Blick erscheint LOVE wie das Mash-Up letzterer Filme - abzüglich der grenzüberschreitenden Gewalt von IRREVERSIBEL und ohne die metaphysischen Höhenflüge von ENTER THE VOID.
Gaspar Noé bezeichnet LOVE als seinen persönlichsten Film. Alles - mit Ausnahme des Babys - sei autobiographisch bzw. im Freundeskreis genau so geschehen, beteuert der Regisseur in einem Interview. Mit dieser Information im Hintergrund erscheint einiges, was mir bei der Erst-Sichtung des Films eher unangenehm aufgestoßen ist, in einem anderen Licht. Es ist jetzt aber nicht so, dass autobiographische Herzensprojekte grundsätzlich über jede Kritik erhaben wären. Täusche ich mich, oder waren die Kamerafahrten in ENTER THE VOID spektakulärer, die Ausleuchtung sorgfältiger, und die emotionale Sogkraft des Films deutlich intensiver als bei LOVE?
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Stamm-Kameramann Benoit Debie ist wieder an Bord und sorgt für Bilder, die jeden Gaspar Noé-Film unverwechselbar machen. Das Problem ist eher, dass eine Geschichte vom tragischen, möglicherweise tödlichen Ende einer leidenschaftlichen Liebe entsprechende schauspielerische Leistungen erfordert, die hier schlicht und ergreifend nicht gegeben sind.
Es ist auch gewiss kein Leichtes, einen männlichen Darsteller zu finden, der überzeugend spielt und vor der Kamera überzeugend seinen Mann steht. (Wir reden immer noch von echten Sex-Szenen). Und nicht jede Jungschauspielerin, die sich darauf einlässt, wird später zum Bond-Girl.
Womit wir endlich beim Thema wären. Die zahlreichen Sex-Szenen sind natürlich die Haupt-Attraktion von LOVE. Filme mit echtem Sex gibt es mittlerweile jede Menge, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und natürlich hier, doch die Szenen in LOVE sind schöner, expliziter, geiler, ja, aber auch: liebevoller als bei jedem anderen Film dieser Art.
LOVE ist nicht pornographisch, LOVE ist ästhetisch. Es gibt keine endlosen Penetrations-Close-Ups. Gaspar Noé hat das große Ganze im Blick. Die ineinander verkeilten, stöhnenden, schwitzenden, extatischen Körper seines Liebespaars - plus fallweiser personeller Verstärkung, denn was wäre ein französischer Sex-Film ohne Ménage à trois?
Das 3D-Format verstärkt das Mittendrin-Gefühl natürlich - und die spritzige Szene, die bislang noch in jeder Filmbesprechung erwähnt wurde, ist tatsächlich eine ziemlich einzigartige Seh-Erfahrung.
Nach dem Kino-Einsatz im Wiener Gartenbaukino kann die Liebe nun im Heimkino erstrahlen.
Vom Finden und Verlieren der Liebe nach Gaspar Noe: Trotz Überlänge und einigen formalen/schauspielerischen Schwächen ist der "Porno mit Kunstanspruch" (Zitat orf.at) natürlich ein Must-See.
In diesem Sinne:
Murphy: "Secrets make you stronger."
Electra: "No. Secrets make you darker."
LOVE ist seit 29.1.2016 auf DVD und 3D-Blu-ray erhältlich.