OT: Livide
HORROR: Frankreich, 2011
Regie: Alexandre Bustillo, Julien Maury
Darsteller: Chloé Coulloud, Félix Moati, Jérémy Kapone, Marie-Claude Pietragalla
Die gespenstische Villa einer greisen, scheinbar im Koma vegetierenden Ballettlehrerin wird für drei jugendliche Einbrecher zur Hölle auf Erden ...
Schon die Vorspannsequenz ist ein kleines morbides Meisterwerk. Unterlegt von den gespenstischen, aber eingängigen Klängen aus dem superben Score Raphael Gesquas erfolgt ein Panoptikum zwischen Melancholie, Tristesse und Vergänglichkeit. Ein einsamer Strand. Ein Meer von Grabmälern. Über einer Statue des gekreuzigten Heiland gleitet ein schwarzer Vogel im tristen Herbsthimmel. Eine Stimmung wie auf den düsteren Infrarot-Fotografien des Simon Marsden. Es wird subtiles Unbehagen geschürt. Doch halt. War da nicht etwas am Strand? Halb vergraben unter Sand und Tang, als Futter für die Krebse und Fliegen? Ein Ausblick darauf, dass es nicht ganz so subtil bleiben dürfte...
Mit ihrem Debütfilm INSIDE haben uns die beiden französischen Regietalente Bustillo und Maury nicht nur eine Gorekeule de Luxe auf die Zwölf gedonnert, sondern neben HAUTE TENSION und MARTYRS vielleicht den Höhepunkt der New Wave of French Splatter Movies schlechthin geschaffen. Das Nachfolgewerk LIVID scheint es zunächst nicht auf ein neuerliches Blutbad anzulegen. Nach der Einleitung mit den Bildern eines einsamen Strandes und den morbiden Grabmälern wird uns ein französisches Küstenstädtchen vorgestellt. Es wirkt still und auf traurige Weise idyllisch, doch es scheint kein guter Ort zu sein. Die mit Fotos von vermissten Kindern zugepflasterte Bushaltestelle kündet davon. In dieser Stadt lebt die jugendliche Altenpflegerin Lucie. Sie hat zwei verschieden farbige Augen und gerade ihre Mutter verloren. Ihr Freund scheint reichlich kriminelle Energie zu haben. Doch sie ist ein starkes Mädchen. Und wird wunderbar gespielt von der noch unbekannten Chloé Coulloud.
Drei junge Einbrecher und eine gespenstische Villa, die weit abseits in der Heide liegt. In der Villa soll sich ein Schatz befinden. Und der scheint leichte Beute zu sein. Denn in diesem riesigen Haus lebt niemand außer einer uralten, komatösen Frau, die lebendig tot in ihrem Bett liegt. In diesem Siechenzimmer hört man nichts außer dem Röcheln einer langsam Sterbenden und die regelmäßigen Geräusche eines Beatmungsgerätes. Das Haus wirkt mit dieser bewußtlosen Greisin sehr viel bedrohlicher, als würde jemand tatsächlich lebendiges darin wohnen.
Die Träume im Hexenhaus - erzählt von zwei jungen, französischen Splatterexperten mit offenbar großer Genrekenntnis. Es gibt dezente Hinweise auf das SCHLOSS DES SCHRECKENS (Die Villa gehört einer Madame Jessel) und sehr viel eindeutigere auf Argentos SUSPIRIA. Hexen, Blut, Ballett.
Die Villa der Madame Jessel. Das wahre Monster in LIVID. Eine abgrundtiefe, verstörende Fundgrube an makabren Dekors und düsteren Zimmern, die man wohl besser nie betreten hätte. Hinter jeder verschlossenen Tür lauert ein neuer Schrecken. Hinter jedem Spiegel ein noch böserer Alptraum. Eine Villa wie aus dem Immobilienscout der Hölle. Ein schreckliches Wunderland.
Irgendwann weit in der zweiten Filmhälfte nehmen die Dinge unvermittelt eine überraschende Wendung. Ein altes Thema (des Horrorfilms) wird äußerst blutig neuinterpretiert. Maury und Bustillo erinnern sich ihrer Splatterwurzeln und der subtile Schrecken muss nun dem des zerrissenen Fleisches weichen. Das letzte Filmdrittel ertrinkt fast im Blut aufgerissener Arterien. Einerseits ist dies einmal mehr perfekt inszenierter Splatter aus Frankreich, andererseits zerbricht der Film fast in zwei Hälften. Paradoxerweise ist der mit subtileren Mitteln arbeitende Teil des Films der beängstigendere. Gegen die zwar eher spärlich eingesetzten, aber ungemein wirkungsvollen Schockmomente der ersten Stunde mutet der nun zelebrierte Holzhammerhorror fast plump. Nichtsdestotrotz besitzen die Bilder von LIVID weiterhin Alptraumqualität. Und selbst in ihrer Blutrünstigkeit liegt noch eine gewisse Virtuosität. Doch die Balance zwischen den Elementen scheint nun etwas verlorengegangen zu sein.
Ganz zum Schluss eine erneute Kehrtwende. Mit der Verbeugung vor dem Werk des 2010 verstorbenen Jean Rollin kehrt man nach dem Blutbad zur düsteren Poesie zurück. Die Schmetterlinge und der Tod. Der Schwanengesang einer vampiristischen Mädchenfreundschaft. Die letzten Minuten gemahnen überdeutlich an Rollins TWO ORPHAN VAMPIRES, LIPS OF BLOOD und natürlich LIVING DEAD GIRL. Allerdings wirkt die Inszenierung plötzlich sehr verquast und bewegt sich gefährlich nahe am Schwulst. Dieser erneute Stilwechsel unterstreicht jedoch den Eindruck, dass LIVID trotz aller visuellen Brillanz und verstörender Atmosphäre uneinheitlich und kaum wie ein in sich geschlossenes Werk wirkt.
Vielleicht ist der Brückenschlag vom märchenhaften Grauen eines SUSPIRIA über Bavas WASSERTROPFEN und die mechanischen Abseitigkeiten eines E.T.A. Hoffmann hin zur modernen Härte des Neuen Französischen Splatterkinos innerhalb eines einzigen Films einfach nur zuviel des Guten. Andererseits wird man in diesem Jahr und auch in naher Zukunft eher selten einen weiteren Film erleben, der die ehernen Vorbilder aus dem europäischen Genrefundus derart virtuos feiert wie dieser.
Schon allein deswegen ist LIVID ein großartiger Horrorfilm und unbedingt sehenswert.
In ihrem berüchtigten Debütfilm INSIDE traktierten die französischen Filmemacher Bustillo und Maury eine schwangere Frau mit der ganz derben Gore- und Terrorkeule. In LIVID, dem Folgewerk, verwandeln sie eine gespenstische Villa in eine Alptraumwelt. Dort wird die Brücke von Bavas WASSERTROPFEN und Argentos SUSPIRIA über die mechanischen Schrecken eines E.T.A. Hoffmann hin zur modernen Härte des Neuen Französischen Splatterkinos geschlagen. Zwei Filmdrittel lang ist dies hochkonzentriertes morbides Grauen, das subtil, aber ungemein verstörend wirkt. Erst im letzten Akt besinnt man sich seiner Splatterwurzeln und lässt das Blut in Strömen fließen. Ganz reibungslos harmonieren die Elemente nicht miteinander - und dennoch wird man heutzutage selten einen Film erleben, der so virtuos die großen Vorbilder feiert wie dieser hier. Gewissermaßen wäre LIVID ein sehr viel würdigerer Abschluss von Argentos "Mutter"-Trilogie als es dessen eigener MOTHER OF TEARS ist. Doch es ist schön zu wissen, dass die Träume im Hexenhaus offenbar noch lange nicht ausgeträumt sind ...