HORROR: USA, 2010
Regie: Matt Reeves
Darsteller: Chloe Grace Moretz, Kodi Smit-McPhee, Elias Koteas, Richard Jenkins, Cara Buono
Ein 12-jähriger Junge und ein geheimnisvolles Mädchen schmieden eine bitter-süße zarte Bande in einer einsamen und bedrohlichen Welt.
Die ewige Diskussion um die uferlos anmutende Remakewut der US-amerikanischen Filmindustrie mag ihre Berechtigung haben. Ich kann und will sie in den meisten Fällen nicht teilen. Gerade das Medium Film lebt von zahllosen Neu- und Uminterpretationen und letztendlich auch den unverfrorenen Plagiaten. Was ein Yojimbo vormachte, ließ sich locker für eine handvoll Dollar wiederholen. Meiner Meinung nach ist einzig was zählt, das Ergebnis.
Let Me In stellt für mich ein Paradebeispiel gelungener Neuinterpretation dar. Und ja, die Betonung liegt hier deutlich auf den Begriffen Neu und Interpretation. Wohlgemerkt: Schon Alfredsons Film, der in enger Zusammenarbeit mit dem Autor entstand, ließ mich fasziniert zurück und den Film noch in der selben Nacht und dem nächsten Tag dreimal erneut anschauen. "Ein Remake kann da nicht gut sein", dachte ich reflexhaft und eine erste Sichtung hatte mich in dieser Annahme vorerst beinahe bestätigt. Erst die wiederholte Sichtung im Originalton zogen mich mehr und mehr in ihren Bann.
Als Grundlage für den Film dienten das Drehbuch und der Roman Let den rätte komma in, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit Teilen des schwedischen Vorgängers sind also zwingend. Und dennoch macht Matt Reeves´ Interpretation vieles anders und so gut wie alles besonders. Er hält sich nah an selbige, fokussiert seine Interpretation aber fast gänzlich auf die Geschichte um die zwei kindlichen Protagonisten. Und diese erzählt nicht nur von der sich anbahnenden und hochambivalenten Liebe zwischen einem 12-Jährigen Jungen und einem Mädchen mit einem besonderen Geheimnis.
Die vornehmliche Vampirgeschichte (in der das Wort Vampir nur einmal erwähnt wird) erzählt symbolisch von noch viel mehr: Von der aufkeimenden (und bedrohlichen) Adoleszenz, von Einsamkeit und Ausgrenzung und von kindlicher Traumatisierung die einhergeht mit überwältigender archaischer Wut und animalischer Gewalt.
Augenscheinlich ist die Erzählweise eine vorrangig amerikanische: Der Schauplatz wurde von Stockholm nach New Mexico verlegt, die Protagonisten in ihrer äußeren Erscheinung verändert und es wurden geringfügig Nebenhandlungen wie - Charaktere um- bzw. hinzugedichtet. Und dadurch wird eine atmosphärisch wie erzählerisch größere Dichte erzielt. Der Ansatz des Regisseurs lebt insbesondere von Kontrasten: In der Bildsprache und der Kameraführung Greig Frasers sowie der musikalischen Untermalung. Der Film illustriert eine kalte Welt. Nicht nur, weil die Geschichte im späten Wintermonat März des Jahres 1983 spielt. Auch die soziale Umgebung bietet kaum Wärme oder Trost. Kinder und Jugendliche agieren untereinander brutal und demütigend. Erwachsene bieten wenig Halt und bleiben distanziert, bisweilen nur schemenhaft erkennbar fotografiert. Hier sind es hauptsächlich kühle, von Neonlichtern scharf erhellte Bilder, die an Filme der 80er Jahre erinnern, welche die Szenerien abbilden. Sie kontrastieren mit in warmen Licht getauchten Aufnahmen, die die Momente der Annäherung der zwei Kinder in nahezu intimen Bildern festgehalten. Die nuancierten Kompositionen von Michael Giacchino verleihen dem Gesehenen eine hörbar gemachte, emotionale Tiefe: Ruhige, zurückhaltende Arrangements, welche die ruhigen Szenen subtil unterstreichen, wechseln mit düsteren, bedrohlichen Kompositionen, die das nahende Ambivalente und Beunruhigende ankündigen. Das Hervorbrechen archaischer Wut und animalischer Gewalt, die in wenigen eingestreuten blutigen Szenen zur Geltung gebracht wird, findet ihren Widerhall in ebenso verstörender Musik.
Anders als die schwedischen Vorarbeiter verlässt sich Reeves gänzlich auf das akzentuierte Spiel seiner Hauptdarsteller. Chloe Grace Moretz und Kodi Smit-McPhee überzeugen in ihrer eindringlichen Darstellung und ermöglichen den Zuschauer Einblicke in die Gefühlswelt ihrer Figuren. Es sind gerade die Intensität ihrer Stimmen und leisen Gesten, mit denen die Jungdarsteller Isoliertheit und Traumatisierungen sowie Scham und Wut, aber auch Momente der Zuneigung und Zärtlichkeit nachspüren lassen. (Man beachte: Die Stimme der ebenso zauberhaften Lina Leanderson aus dem schwedischen Original wurde nachsynchronisiert.) Auch die Nebendarsteller, insbesondere Elias Koteas und Richard Jenkins, tragen in ihren Momenten zur besonderen Atmosphäre des Films bei.
Etwas, das der Film besser als sein ohnehin überragendes Vorbild besser macht: Er verzichtet auf eine Doppeldeutigkeit, die im Vorgängerfilm meiner Meinung nach aufgesetzt provozierend wirkte. Auch die von einigen Kritikern monierte Eindeutigkeit der Figurenzeichnung trägt nach meiner Ansicht zur Intensivierung der erzählten Geschichte bei. Der Film entlässt - wie auch sein Vorgänger - seine Zuschauer nicht in ein Happy-End, sondern unterstreicht im Schluss die Ambivalenz der Beziehung der beiden Protagonisten noch stärker.
Abschließend muss ich dennoch eine Kritik äußern: In den Blu-Ray und DVD-Veröffentlichungen ist im Bonusmaterial eine Sequenz enthalten, die von Reeves aus erzählerischen Gründen aus dem fertigen Film entfernt wurde. Doch ist es gerade diese 3-minütige Szene, die in grandioser Verdichtung von Bildern und Musik sowie durch das intensive mimische und gestische Spiel der Kinder vom Traumatischen und Tragischen erzählen lässt und in sich auf den Titel des Films verweist.
Drum prüfe, wen Du in Dich hinein lässt: Ein melancholisch-mitreißender Film im Horrorgewand über eine tragisch- zärtliche Beziehung zweier traumatisierter Kinder.