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Last Night in Soho

Last Night in Soho

PSYCHOTHRILLER: GB, 2021
Regie: Edgar Wright
Darsteller: Thomasin McKenzie, Matt Smith, Anya Taylor-Joy, Michael Ajao, Diana Rigg, Terence Stamp

STORY:

Die junge Modestudentin Ellie (Thomasin McKenzie) bezieht ein Zimmer in Londoner Stadtteil Soho. In ihren Träumen springt sie in die Sechziger Jahre und verwandelt sich in Sandy (Anya Taylor-Joy). Sandy ist alles, was Ellie gerne wäre: Enorm selbstbewusst, sexy und lasziv, gesegnet einer wunderbaren Singstimme, mit der sie die Männer in einem Nachtclub um die Finger wickelt. Ein weiblicher Tyler Durden quasi, der auch noch singen und tanzen kann. Traumwelt und Realität kollidieren, und irgendwann wird Ellie in Panik geraten und mit einer Schere auf ihre Kollegin losgehen. Es wird noch viel Blut fließen ...

KRITIK:

Die Sechziger Jahre gelten ja gemeinhin als die Zeit der gesellschaftlichen Umwälzungen und der sexuellen Befreiung. Aber wie befreit war die Gesellschaft wirklich? Bis in die späten Siebziger hinein, hab ich kürzlich gelesen, durften Frauen ohne Zustimmung ihres Ehemanns weder eine Arbeit annehmen noch ein Bankkonto eröffnen. Bis in die Neunziger hinein war Vergewaltigung in der Ehe kein Straftatbestand. Strafbar war hingegen Homosexualität, die man in den Sechzigern und Siebzigern besser nur im Verborgenen ausgelebt hat.

Wer das schreiberische Unwesen, das ich hier treibe, schon etwas länger verfolgt, wird mitgekriegt haben, wie sehr ich das Kino der Siebziger und Achtziger liebe. Es ist ja ein großes Paradoxon, dass viele der freizügigsten, amoralischen, weirdesten, blutigsten und vor ungezügelter Energie berstenden Filme in einem so rigiden gesellschaftliche Klima entstanden sind.
Während heute, wo wir einen wesentlich höheren Grad an Gleichstellung und gesellschaftlicher Freiheit erreicht haben, ständig nach Zensur und Verbot geschrien wird: Die "Generation Beleidigt" bringt Netflix in Bedrängnis, wenn in einer Comedy-Show ein blöder Scherz fällt, der LGBTQ-feindlich ausgelegt werden könnte. Die neuen Puritaner aus der Generation Woke würden am liebsten die Bikini Girls aus den alten Bond-Filmen raus retouchieren, weil: Male Gaze. Sexualisierung von Frauenkörpern. Unemanzipierte Rollenbilder. Misogynie. Weg damit. Am besten gleich die halbe Filmgeschichte canceln. Ende Gelände.

Als ich zum ersten Mal die Nachricht vernahm, dass Edgar Wright, der mit BABY DRIVER einen der unterhaltsamsten Filme der letzten Dekade geschaffen hat, als nächstes Projekt einen Giallo drehen würde, dachte ich mir: Wow. Darf er denn das? Viele der blutgetränkten, sexualisierten, freudianisch geprägten, opernhaften italienischen Psychothriller, von denen wir doch den einen oder anderen rezensiert haben, würde man heute so nie und nimmer drehen können. Weil, siehe oben: Male Gaze. Sexualisierung von Frauenkörpern. Unemanzipierte Rollenbilder. Misogynie.

Aber keine Angst, Edgar Wright hat einen Weg gefunden. In der ersten halbe Stunde von LAST NIGHT IN SOHO glaubt man nämlich nicht, überhaupt in einem Horrorfilm zu sitzen. Was wir hier vorgesetzt bekommen, ist ein souveränst inszeniertes, in satteste Farben getauchtes - ja, was eigentlich? Teenager-Drama? Zeitreise-Thriller mit Musical-Elementen? Oder doch Giallo-Hommage?

Wie immer spart der Regisseur nicht gerade mit Filmzitaten und Anspielungen: Eine Leuchtschrift bei einer Studentenparty trägt den Titel eines bekannten Films von Dario Argento (der LAST NIGHT IN SOHO wiederum lobte). Eine Biermarke klingt phonetisch wie ein bekannter kanadischer Filmregisseur. Das Zimmer der Studentin erinnert, in schönstes SUSPIRIA-Licht getaucht, an das Filmentwicklungslabor von Karlheinz Böhm in PEEPING TOM. Ja, der psychologische Horrorfilm der Sechziger und der Giallo der Siebziger lassen schön grüßen.

LAST NIGHT IN SOHO ist aber eben KEINE nostalgische Verklärung einer Ära, die man nur durch ihre Filme und ihre Musik kennt. Ganz im Gegenteil: All die problematischen Aspekte, die den Filmen dieser Ära vorgeworfen werden - ihr könnt mittlerweile mitsprechen - Sexualisierung von Frauenkörpern, unemanzipierte Rollenbilder, Misogynie - kommen vor. Sie werden Teil der Handlung, des Horrortrips, den Ellie durchleidet. Natürlich mit einem feministischen Twist, so viel darf verraten werden. Because it's 2021.

Last Night in Soho Bild 1
Last Night in Soho Bild 2
Last Night in Soho Bild 3
Last Night in Soho Bild 4
Last Night in Soho Bild 5
Last Night in Soho Bild 6
FAZIT:

Der neue Film von Edgar Wright: Psychologischer Zeitreise-Horrorthriller, Swinging Sixties-Musical und Giallo-Hommage in einem. Musik, Kostüme, Schnitt und Rhythmus: Alles top. Und diese Farbenpracht. Fast schon too much. Reizüberflutung als Kunstform. Sein zweitbester Film nach BABY DRIVER.

WERTUNG: 8 von 10 Coladosen mit Namen drauf
Dein Kommentar >>
Modesty Blaise | 05.01.2022 16:41
Und die redundant aus Wänden, Böden schießenden, gierigen Hände sind wohl eine Hyper-Hommage an Polanski`s ?Ekel?;). Eine meiner Lieblingsszenen ist die Discotanzszene mit ?Happy House?, leider viel zu kurz, hätte ruhig in epischer Länge gedreht werden können.. 2020/2021 eben.. Über die diversen Giallo Genre Stereotypen sehe ich geflissentlich hinweg, da ich so hingerissen bin von Ästhetik, Atmosphäre, Spannung und Musik.
marsel | 15.01.2022 16:14
edgar wrights bester film seit vielen jahren . nur der schluss hat (mich) ein bisschen enttäuscht .
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