OT: Los ojos de Julia
PSYCHOTHRILLER: Spanien, 2010
Regie: Guillem Morales
Darsteller: Belén Rueda, Lluis Homar, Pablo Deroui, Francesc Orella
Wie ihre bereits erblindete Zwillingsschwester leidet auch Julia an einer Augenkrankheit, die ihr bald die Sehkraft nehmen wird. Als ihre Schwester erhängt im Keller gefunden wird, glaubt Julia nicht an einen Selbstmord. Viel mehr befürchtet sie, dass dieses mysteriöse Phantom im Umfeld ihrer Schwester etwas mit deren Tod zu tun hat. Doch existiert der Mann, der sich immer in den Schatten aufhält und an den sich kaum jemand erinnern kann, wirklich?
Manche nennen den von niemand Geringerem als Guillermo del Toro unterstützten JULIA'S EYES einen Horror-Thriller; manche einen Neo-Giallo. Aber ganz egal, wie man Guillem Morales` Werk letztendlich bezeichnen will; es ist ein faszinierender Psychothriller über eine Frau, die langsam erblindet und ein psychotisches Phantom, das so eins mit den Schatten ist; das es beinahe unwirklich wird.
Zuwachs also für die Sorte Thriller, die blinde Protagonist(inn)en oder Menschen, die langsam ihr Augenlicht verlieren, in den Mittelpunkt ihrer Handlung stellt. Die düstere SPIRAL STAIRCASE aus dem Jahr 1945 ist sicherlich der Klassiker in diesem Sujet. Der '67er WAIT UNTIL DARK mit einer "blinden" Audrey Hepburn und dem diabolischen Alan Arkin vielleicht der Beste. In den beiden Frühsiebziger-Gialli DIE NEUNSCHWÄNZIGE KATZE und CRIMES OF THE BLACK CAT ermitteln jeweils blinde Männer in rätselhaften Mordserien und in Hollywoods weniger aufregenden, aber soliden Mainstream-Thriller JENNIFER 8 (1992) wird eine Uma Thurman ohne Augenlicht von einem Serienmörder bedroht, der es auf blinde Frauen abgesehen hat. JULIA'S EYES, brandneu aus Spanien, ist nun mehr der jüngste Beitrag zum Thema und was für einer!
Dabei ist JULIA'S EYES erst Morales' zweite Arbeit. Zuvor hat der junge Spanier UNCERTAIN GUEST gemacht; ebenfalls ein Psychothriller. Das bemerkenswerte Debüt wurde vor fünf Jahren hier in Deutschland via Koch Media veröffentlicht, aber vom Publikum sträflich übersehen. Ein Schicksal, das Morales' neuester Streich hoffentlich nicht teilen muss.
Denn Morales beweist bereits zu diesem frühen Zeitpunkt seiner noch jungen Karriere eine Versiertheit, die manch anderer Regisseur nicht einmal nach zehn Streifen auf dem Zenit seines Schaffens erreicht. Die ersten beiden Filmdrittel bewegen sich nahe an der Perfektion. Ein unheimlich in Szene gesetzter Quasi-Selbstmord leitet den mysteriösen, undurchsichtigen Alptraum einer Frau ein, die durch diese Tragödie nicht nur die Zwillingsschwester verloren hat, sondern demnächst auch ihr Augenlicht verlieren wird. Während Julias Welt langsam in Finsternis versinkt, werden die Schatten um sie herum immer lebendiger.
Wer ist dieser mysteriöse Freund, den ihre Zwillingsschwester gehabt haben soll, aber an den sich kaum jemand erinnern kann? Jener Mann, von dem nicht ganz klar ist, ob er überhaupt existiert? Ist er identisch mit dieser behandschuhten, gesichtslosen, stets in Schatten gehüllten Gestalt, die Julias dunkler werdende Welt immer öfter betritt und bestimmt nichts Gutes im Schilde führt?
Es ist ein Spiel mit dem Wirklichen und Unwirklichen im Bewußtsein einer allgegenwärtig lauernden Bedrohung. Die zu Tage tretenden Obsessionen sowie die vielen undurchsichtigen Protagonisten im Umfeld der Hauptprotagonistin sind dabei ebenso Remininszenzen an den Giallo wie die sorgfältig komponierten Bilder, die Atmosphäre zum Schneiden und natürlich dieser eine waschechte "Handschuh-Mord", den der Film schließlich als ultimative Hommage aufbietet.
Auch wenn Morales die großen, italienischen Thriller der 70er ganz genau kennen dürfte, würde ich nicht soweit gehen und JULIA'S EYES in diese Schublade stecken. Schon allein wegen dem fehlenden Sleazefaktor steht dieser Film eher in der Tradition der eingangs erwähnten "Blind Eyes"-Thriller und diesen seinen Ahnen macht er keine Schande.
Mit viel Gespür für das Unheimliche und Mysteriöse baut Morales in den ersten beiden Filmdritteln eine intensive, mit Schauermomenten angereicherte Spannung auf. Dabei beweist er immer wieder eine heutzutage selten gewordene Raffinesse. Es ist ein durchaus brillanter Schachzug, wenn die Kamera ab dem Zeitpunkt, als Julias Augen von einer Binde bedeckt sind und ihre Welt endgültig schwarz geworden ist, keine Gesichter mehr zeigt. Damit nimmt er dem Zuschauer jegliche Chance in der Mimik der Darsteller lesen zu können. Da Gesichter oft mehr offenbaren als Worte, macht uns Morales gewissermaßen ebenso blind und hilflos wie seine übrigens von Belén Rueda vortrefflich verkörperte Hauptprotagonistin.
Bei aller Cleverness kann man JULIA'S EYES jedoch von einem Vorwurf nicht ganz freisprechen. Das letzte Drittel (und damit auch die Auflösung) ist etwas konventionell geraten. Doch es bleibt spannend und makaber. Zudem weiß man mit einigen knochentrocken eingestreuten Garstigkeiten überraschen - wie etwa die Nahaufnahme von der Nadelspitze, die sich unbarmherzig in einen Augapfel bohrt.
Auch wenn in der letzten halben Stunde viel von dem Nebulösen und etwas von der Extravaganz verlorengeht; das Ende enttäuscht trotzdem nicht. Somit lässt der Film nur einen Schluss zu: Morales ist ein Ausnahmetalent, das man tunlichst nicht aus den Augen verlieren sollte.
Nennt ihn Horror, Mystery oder Neo-Giallo... - Egal in welche Schublade man den zweiten Film des jungen, spanischen Ausnahmetalents Guillem Morales auch stecken möchte; JULIA'S EYES ist ein spannend, düster und vor allem virtuos komponierter Psychothriller über eine Frau, die langsam ihr Augenlicht verliert und ein psychotisches Phantom, das in den zunehmend dichter werdenden Schatten auf sie lauert. Trotz des etwas zu konventionell geratenen, aber immer noch packenden Schlussakts nimmt hier endlich wieder ein Film die hehre Tradition großer "Blind Eyes"-Thriller wie THE SPIRAL STAIRCASE oder WAIT UNTIL DARK auf. Und das tut er mit Nachdruck!