OT: I ragazzi del massacro
POLIZIOTTESCO/GIALLO: ITA, 1969
Regie: Fernando Di Leo
Darsteller: Pier Paolo Capponi, Nieves Navarro, Marzio Margine, Renato Lup
Eine Lehrerin, die straffällige Jugendliche unterrichtet, wird während des Unterrichts von ihren Zöglingen angegriffen, vergewaltigt und bestialisch ermordet. Kommissar Lamberti, der aufgrund der grausamen Vorgehensweise der Jugendlichen und des geschändeten Leichnams der Lehrerin sehr betroffen reagiert, möchte um jeden Preis herausfinden, wer für die Tat verantwortlich gemacht werden kann. Trotz seiner ungewöhnlichen und recht harten Verhörmethoden bekommt er aus den verdächtigen Jungs, die alle über ein imposantes Vorstrafenregister verfügen, nur wenig heraus. Sie scheinen alle vor irgendetwas oder irgendjemandem Angst zu haben.
Sein Chef rät ihm, die Akte zu schließen, aber Kommissar Lamberti will um jeden Preis weiter ermitteln. Deswegen ändert er seine Vorgehensweise und holt Carolino Marassi, der mittlerweile wie alle anderen Hauptverdächtigen in einer Besserungsanstalt für Jugendliche untergebracht wurde, zu sich nach Hause. Mithilfe von Livia Ussaro, der (äußert attraktiven) Sozialarbeiterin der Jugendlichen, möchte Kommissar Lamberti dem in Bezug auf seine Zukunft desillusionierten Carolino zeigen, wie ein Leben in Freiheit und Wohlstand aussehen könnte und ihn innerhalb von ein paar Tagen dazu bringen, den Täter bzw. mögliche Hintermänner zu verraten.
Wird der Plan des Kommissars aufgehen? Wer ist wirklich für die barbarische Tat im Klassenzimmer verantwortlich? Weiß Carolino überhaupt etwas?
Wenn man bedenkt, dass "I ragazzi del massacro" in den 60er Jahren entstanden ist, kann man den Film durchaus aus revolutionär bezeichnen. Wieder einmal scheint der liberal denkende Ausnahmeregisseur Regisseur Fernando Di Leo (u.a. "Milano Kaliber 9", "Avere vent'anni", "Der Mafiaboss") seiner Zeit voraus gewesen zu sein.
Dies stellt er bereits vor dem eigentlichen Beginn des Films unter Beweis. Der bestialische Mord an der Lehrerin mitten im Klassenzimmer wird noch während des Vorspanns gezeigt - ein für die damalige Zeit ungewöhnliches Stilmittel. Als Endbild nach den Credits und bevor die eigentliche Handlung beginnt, gibt es noch eine Nahaufnahme der geschändeten Frauenleiche - mit deutlichen Spuren von körperlicher und sexueller Gewalt - zu sehen.
Ein ganz schön heftiger Anfang.
Das Drehbuch ist offensichtlich von der ersten bis zur letzten Seite durchdacht - das Hauptaugenmerk liegt neben der Darstellung der Polizeiarbeit auf der Charakterisierung der delinquenten Jugendlichen und deren jeweiligem familiären Hintergrund.
Trotz Beleuchtung des Milieus, in dem die Jugendlichen aufwachsen, wird die grausame Tat nicht beschönigt und glücklicherweise bemühte sich der Drehbuchautor auch nicht um eindimensionale Erklärungsmodelle à la "Die Täter sind lediglich ein Produkt der Gesellschaft und im Grunde genommen selbst Opfer".
Die Hauptrolle spielt Kommissar Lamberti (Pier Paolo Capponi), der nicht akzeptieren will, dass die für den Mord verantwortlichen Personen keine oder nur eine geringe Strafe bekommen und der ahnt, dass es irgendeine Verbindung zu einem außenstehenden Mittäter oder Auftraggeber geben muss.
Etwas unausgegoren scheint die Charakterisierung von Livia Ussaro (die schöne Susan Scott aka Nieves Navarro), die als Sozialarbeiterin den Kommissar bei seinem Vorhaben unterstützt und Carolino betreut. Sie hat wenig Dialogszenen und wirkt mehr wie eine zufällige Beobachterin als dass sie ihr fachliches Wissen einbringt. Etwas untypisch für Di Leo, der in diversen Interviews immer wieder versichert hat, großen Wert auf selbstbewusste und selbstbestimmte Frauencharaktere in seinen Filmen zu legen.
Von der Handlung erinnert der Film stellenweise sehr an (das später entstandene und in den 70er Jahren boomende) Poliziottesco-Genre, nimmt aber auch einige Anleihen am Giallo. Ähnlich wie "Der Tod trägt schwarzes Leder" könnte man "I ragazzi del massacro" als "Poliziottesco-Giallo-Hybrid" bezeichnen. Und doch wäre das wieder zu einseitig. Am ehesten trifft die Bezeichnung "ein typischer Fernando Di Leo-Film" zu.
" I ragazzi del massacro" ist ein weiteres kleines Meisterwerk von Fernando Di Leo, der wie in seinen anderen Filmen mehrere Elemente geschickt vereint: Sozial- bzw. Charakterstudie und die Darstellung polizeilicher Ermittlungsarbeit. Das Ganze schön garniert mit Story-Elementen, die leicht ins giallo-hafte abdriften. Fans von Milano Kaliber 9 und Co. und LeserInnen, die mit Gialli und/oder Poliziottesci etwas anfangen können, sollten auf jeden Fall mal einen Blick auf "I ragazzi del masssacro" riskieren!