DRAMA/THRILLER: F, 2012
Regie: Leos Carax
Darsteller: Denis Lavant, Eva Mendes, Michel Piccoli, Edith Scob, Kylie Minogue
Es ist früher Morgen in einem Pariser Villenviertel. Die Strechlimousine steht bereit, um Monsieur Oscar abzuholen. Neun Termine stehen heute an, bei denen Monsieur Oscar u.a. auf einem Friedhof Radau schlagen, zwei Menschen töten und selbst beinahe (?) sterben wird. Ein ganz normaler Arbeitstag eben ...
Menschen, die mit einer Strech-Limo zur Arbeit fahren, sind ja eher mit Vorsicht zu genießen. Eben erst haben wir in David Cronenbergs COSMOPOLIS ein solches Exemplar kennen gelernt und sind nicht recht schlau aus ihm geworden: Was treibt diese Menschen an, woran besteht ihre Arbeit eigentlich, was wollen sie wirklich? Was ist das überhaupt: Die Wirklichkeit?
Monsieur Oscar (enorm wandlungsfähig: Denis Lavant) ist offensichtlich Schauspieler. Oder Aktionist. Performance-Künstler. Oder Auftragsmörder. So genau weiß man das nicht, und es spielt auch bald keine Rolle mehr.
In seinem ersten Kinofilm seit 13 Jahren (verdammt, wie die Zeit vergeht) streckt das einstige Regie-Wunderkind Leos Carax dem Publikum genüsslich den gereckten Mittelfinger entgegen: Logik und Handlung? Drauf geschissen, im Wortsinne: Eine Figur hört auf den schönen Namen Monsieur Merde und bekommt in Gegenwart eines auf Islam-Madonna getrimmten Fotomodels eine Erektion, die so beeindruckend ist, dass man sie dem Publikum unmöglich vorenthalten kann. Skandal, bitte kommen!
Man merkt schon: Leos Carax war grantig und frustriert, was ihm niemand verübeln kann. Nach seinem Flop mit Pola X (1999) wollte kein Produzent mehr Geld in die stets megalomanischen Film-Visionen den französischen Post-Surrealisten investieren.
Es ist schon legitim, seine Wut über den Stumpfsinn der Moderne in ein satirisches Monster von Kunstfilm zu packen, den garantiert niemand verstehen, geschweige denn entschlüsseln kann. Solange der Film visuell und atmosphärisch funktioniert - und die Pointen sitzen. Denn anscheinend haben wir es mit einer Komödie zu tun. Aber das ist nicht so sicher, wie fast alles in diesem Film.
Sicher ist nur, dass Denis Lavant elf (!) verschiedene Rollen spielt und dass Michel Piccoli und Kylie Minogue mitwirken. Und wohin geht die cineastische Reise? Carax fährt an der Pont Neuf vorbei, biegt in den Mulholland Drive ein, wo er Michael Mann und Brian de Palma aufliest, um schließlich tief in der europäischen Film-Geschichte zu landen: Die Besetzung der Limo-Chaffeurin ist eine Verneigung vor dem französischen Horror-Klassiker AUGEN OHNE GESICHT. Schon damals schmückte sich Schauspielerin Edith Scob operativ mit den Gesichtern schöner Mordopfer.
Die schönen Anspielungen und Querverweise (von denen ich sicherlich nicht alle entschlüsseln konnte) können aber über ein großes Problem des Films nicht hinwegtäuschen: Trotz traumschöner Kamera und grandiosem Soundtrack (u.a. von den Bands Sparks und The Divine Comedy) hat die nächtliche Fahrt durch Paris leider ihre Längen, die die 112 Minuten Laufzeit mitunter zur zähen Geduldsprobe werden lassen.
Das ist schade. Wie viel mehr hätte man etwa aus der traumhaften Begegnung von Denis Lavant mit der in Würde gealterten Kylie Minogue herausholen können? Stattdessen lässt Carax seinen Film in einer jenseitigen Schlusspointe zusammenkrachen. Das sollte wohl große Zivilisationskritik sein, wirkt aber im Kontext dieses Filmes einfach nur kindisch. Sprechende Autos, geh bitte. David Hasselhoff, übernehmen Sie ...
Nach dreizehn Jahren Funkstille meldet sich Frankreichs ehemaliges Regie-Wunderkind Leos Carax ("Die Liebenden von Pont Neuf") mit einem surrealen, zähen Monster von Kunstfilm zurück, der alles und nichts zugleich sein will: Satire, Thriller, Melodram, nihilistische Zivilisationskritik und Meta-Film über das Wesen des Kino an sich. Das ist stellenweise genial, stellenweise verstörend und grenzüberschreitend, und über weite Strecken ziemlich anstrengend. Mit einer selten-depperten Schlusspointe schießt sich Carax absichtlich selbst ins Knie und grinst wahrscheinlich über das rausspritzende Blut. Prätentiöse Kunstscheisse oder Geniestreich, das ist hier die Frage.
In diesem Sinne: "Es gibt Tage, an denen reicht ein Mord pro Tag nicht aus."