DOKUMENTARFILM: D, 2009
Regie: Thomas Lauterbach
Darsteller: Aysel Kilic, Annabella Akcal, Hülya Özkaner, Selda Vogelsang, Volker Lösch
Aysel, eine gläubige und Kopftuch tragende Muslima, möchte dem Hausfrauendaseinsalltagstrott ein wenig entfliehen und bewirbt sich am Stuttgarder Stadttheater für ein Stück, wo türkische Laiendarstellerinnen gesucht werden. Alle anderen Bewerberinnen tragen kein Kopftuch und haben einen eher westlichen Lebensstil. Dass sich das Stück auch noch mit der Frage nach der Freiheit der türkischen Frau beschäftigt, macht sie Sache nicht unbedingt leichter.
KRITIK:"Hochburg der Sünden" mag zwar einen Titel wie ein Groschenroman haben, und natürlich ist es genau Aysel, die diesen Begriff prägt, aber in diesem Film steckt eine Menge. Aufgestaute Gefühle, unterschiedliche Lebensentwürfe, Freiheit und Unterdrückung, Tränen und Konflikte, die ganze Bandbreite an Gefühlen unter den vielen deutsch-türkischen Frauen, die hier wirklich einen Seelenstrip der Extraklasse hinlegen, denen die Kamera so nahe ist, dass man manchmal gar nicht mehr glauben kann, dass das hier nicht inszeniert ist.
Allerdings dauerte die Produktion des Stückes auch mehrere Monate, wenn da jemand mit der Kamera die ganze Zeit mitmacht, dann ist es nur eine Frage der Zeit bis dieser Jemand die Wahrheit vor die Kamera kriegt.
Was ist denn jetzt nun die Wahrheit? Die Wahrheit ist, und das zeichnet den Film besonders aus, es gibt überhaupt keine Wahrheit. Diese türkischen Frauen sind unterschiedlich wie man es nur sein kann. Ein "Extrem" stellt die strenggläubige Aysel dar, die aus westlicher Sicht viele befremdliche Dinge denkt, diese aber teilweise genauso vernünftig-rational wie auf der anderen Seite unverünftig und irrational argumentiert, wie ihr stärkster Gegenpol am anderen Extrem in der Gruppe, die sehr moderne christliche Türkin Annabella.
Nur dass Aysel in der wesentlich schwierigeren Position dasteht, sie macht mit einem mulmigen Gefühl mit, sie versucht ihre Sicht der Dinge zu behüten, sie kann die ganzen schrecklichen Geschichten von Gewalt und Unterdrückung, welche ein Großteil der anderen Frauen erlebt haben, gar nicht glauben und nachvollziehen.
Sie empfindet ihren eigenen Spaß am Theater als Laster, die will nicht alles ausprobieren, sie will nicht ihre Grenzen testen, sie glaubt, dass ihre weibliche innere Stimme eine Sünde ist, sie glaubt, dass Männer das bessere und erhabene Geschlecht sind.
Aber sie ist auch eine intelligente und selbstbewusste und kämpferische Frau. Und sie liebt die Bühne, sie liebt es, das Innerste hervorzukehren und wird ganz süchtig danach. Genau sie, der die inneren Konflikte, Schwächen und Abhängigkeiten von Annabella nicht geheuer sind. Sie diskutieren jeden Tag, ringen miteinander, gegeneinander, machen große Schritte in ihrer Entwicklung, vornehmlich diese beiden, aber natürlich auch alle anderen.
Alle toben sie auf der Bühne, sie dürfen das auf den Brettern, die das Leben bedeuten, gieren nach Selbstausdruck genauso wie sie sich vor den Konsequenzen in der türkischen Community fürchten und hoffe,n nicht nur wieder das Bild von der gedemütigten, unterdrückten türkischen Frau zu bedienen. Sie wollen das beenden, alle wollen sie das. Und wenn auch das Stück nicht gezeigt wird, der Film schafft dies mit Sicherheit. Er stellt eine Generation von komplexen und widersprüchlichen Wesen dar, die niemals in ein Bild gepresst werden können, die Täter, Opfer und Mitläufer sind, die gut und schlecht, die einfach Menschen sind.
"Hochburg der Sünden" ist ein packender Dokumentarfilm, der tief in private Bereiche und Gedanken von verschiedensten deutsch-türkischen Frauen eindringt und dabei verschiedenste Schichten in verschiedensten Farben und Schattierungen freilegt, die manchmal furchtbar, manchmal aber auch wunderschön sein mögen. Ein Film, der die Menschheit und Menschlichkeit feiert, mit all ihren Vorzügen und Fehlern. Ganz kleines, großes Kino! Erschienen ist dieses kleine Juwel als DVD bei Mindjazz Pictures.