HORROR: USA, 2018
Regie: Ari Aster
Darsteller: Toni Collette, Gabriel Byrne, Milly Shapiro, Alex Wolff
Du denkst, wenn die Mutter, die dir zeitlebens das Leben zur Hölle gemacht hat, tot und begraben ist, kehrt endlich Ruhe ein im Eigenheim? Freu dich nicht zu früh, Annie ...
Es war ruhig nach der Pressevorführung - sehr ruhig. Im Saal waren mittlerweile die letzten Klänge des beeindruckenden Soundtracks von Jazz-Bläser Colin Stetson verklungen, als sich die ersten Vertreter der schreibenden Zunft blinzelnd in Foyer wagten, um sich den Fragen der Marketingabteilung zu stellen. Und den meisten - auch mir - fehlten die Worte. Was wir in den letzten nahezu zweieinhalb Stunden erlebt hatten, war ein Kinoerlebnis der ganz besonderen Art. Ein Horrorfilm, der diese Bezeichnung tatsächlich verdient - ein Produkt also, das gekonnt auf der Klaviatur der Angsterzeugung spielt, nahzu komplett auf die altbekannten und mittlerweile zu Klischee verkommenen Standards (I´m talking about you Blumhouse) verzichtet und den Zuschauer in ein zuckendes Nervenbündel verwandelt, so fern er in der Lage ist, sich darauf einzulassen.
Dabei geht der Film zu Beginn eher altbekannte Wege. Ausgehend von der Beerdigung der Matriarchin der Familie Graham nimmt sich "Hereditary" erst einmal 45 Minuten Zeit uns seine Protagonisten vorzustellen. Toni Collette spielt Annie, Tochter der Verstorbenen, eine Künstlerin, die erstaunlich detaillierte Miniatur-Dioramen aus ihrem privaten Leben baut und nun unter erschreckenden Visionen leidet, denen sie mit Besuchen in einer Selbsthilfegruppe Herr zu werden versucht.
Ihr Mann Steve (Gabriel Byrne), ein Psychologe, kann mit diesem Ansatz weniger anfangen und erweist sich dadurch, trotz seiner eigentlichen liebevollen Art, nicht als große Hilfe.
Peter (Alex Wolff) der 18-jährige Sohn der beiden, verarbeitet den Tod seiner Großmutter dadurch, dass er sich in einen Rausch aus Drogen, Alkohol und Mädchen stürzt. Und dann ist da noch die 12-jährige Tochter Charlie (Milly Shapiro), ein schon optisch eher ungewöhnliches Mädchen, die sich immer mehr in ihre eigene Welt - ein Baumhaus - zurückzieht und seltsame Objekte aus Müll und Tierkadavern bastelt.
In dieser Phase des Filmes baut sich das Grauen langsam und nahezu unbemerkt auf. So sieht man seltsame Schatten im Hintergrund durch das Bild huschen oder es scheint so als würde sich die tote Mutter in irgendwelchen Winkeln des großen Hauses verstecken. Doch im Gegensatz zu den oben erwähnten massenkompatiblen Popcorn-Gruslern wird der Zuschauer nicht mittels Zimmerscher Nebelhörner oder wilden Schnitten darauf hingewiesen, so dass er selbst teilweise nicht sicher ist ob da wirklich etwas war.
Trotzdem beginnt man von Minute zu Minute unruhiger im Kinosessel herumzurutschen, denn je mehr man über die geheimnisvolle Vergangenheit der Familie erfährt und je seltsamer sich die Protagonisten verhalten, um so klarer wird einem, dass all das nur eine Einleitung ist.
Speziell die Musik und der Soundmix helfen hier ganz gewaltig. Fast unhörbares, aber tief in den Hirnwindungen fühlbares Bassgewummer und schräge, aber doch eingängige Töne untermalen das Familiendrama und betonen die vorwiegend subtil gesetzten Gruselelemente. Schauspielerisch bekommt man hier auch durchgehend Spitzenklasse geboten. Die wieder einmal großartige Toni Collette darf langsam unter der Last von Verlust der Mutter, Visionen und unterdrückten Kindheitserinnerungen zusammenbrechen, bleibt dabei aber trotzdem stark genug um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Gabriel Byrne hingegen wirkt allerdings in dieser Phase des Filmes etwas blass, was dadurch begründet ist, dass seine Figur natürlich rein erbtechnisch gesehen nicht direkt von der "spukenden" Mutter abstammt und auch Alex Wolff hat als zweites männliches Mitglied der Familie anfangs gruseltechnisch eher das Nachsehen, da - was immer da auch sein mag - ja hauptsächlich mit seiner Großmutter zu tun hat.
Als Entdeckung des Filmes darf man aber Milly Shapiro bezeichnen. Das Mädchen mit dem eher außergewöhnlichen Gesicht, das hier mittels subtilem Make-Up und dank ihrer hervorragenden Schauspielkunst noch mehr hervorgehoben wurde, lässt Charlie zu einem der unheimlichsten Kinder werden, die jemals die Leinwand bevölkert haben. Unheimlich - allerdings nicht unsympathisch oder bösartig und auch dass das funktioniert ist ganz alleine ihrer Kunst zuzuschreiben.
Charlie entwickelt sich dann auch langsam zum Zentrum des düsteren Geheimnisses, das deutlich über der Familie schwebt und dessen Puzzleteile scheinbar nicht ganz zusammenpassen wollen.
Der Zuschauer gerät immer mehr in den Sog der Geschichte und dann...
... schlägt ihm Regisseur Aster sozusagen mit einem Baseballschläger ins Gesicht.
Es kommt zu einer Szene, deren vordergründige Schockwirkung schon für ein entsetztes Stöhnen im Kinosaal sorgt, die aber durch die darauf folgenden fünf Minuten, in denen dem Zuschauer das gesamte Ausmaß des Gesehenen erst bewusst wird, für mich zu einem der härtesten Momente gehört, die ich je in einem Horrorfilm gesehen habe.
Von diesem Moment an macht "Hereditary" keine Gefangenen mehr. Damit mich hier niemand falsch versteht, der Film ist kein Splatter-Opus und kein blutiger Actionfilm. Wir befinden uns hier eher im Bereich eines "The Exorcist", der ja auch gerade durch die Kombination "Ruhiger Anfang, langsamer Charakteraufbau, tolle Schauspieler, perfekte Bild- Ton-Mischung und subtile Schocks" seine unvergleichliche Wirkung entfaltete. Ebenso wie bei Friedkins Schocker zieht sich die Schockschlinge mit steigender Laufzeit auch hier immer enger um den Hals des Zuschauers, während es ihm gleichzeitig klar wird, dass die eigentliche Geschichte des Filmes tiefer geht als eine bloße Masturbation einer 12-jährigen mit einem Kruzifix.
Regisseur Ari Aster selbst vergleicht den Film im hier verlinkten Interview mit Mick Garris selbst lieber mit Rosemaries Baby, wobei er sich dabei wahrscheinlich eher auf die Charaktere selbst und die Grundstory bezieht, die eher im okkulten als im christlichen angesiedelt ist. Aber "Potatoes / Potatos" wie man im englischen/amerikanischen so schön sagt - Fakt bleibt dass beide Klassiker nicht unbedingt die schlechteste Gesellschaft sind, in der man sich als Horrorfilm wiederfinden kann. Nach der Premiere des, damals noch nicht komplett fertiggestellten, Filmes auf dem Sundance-Festval im Januar diesen Jahres machten schnell die Gerüchte vom besten Horrorfilm des Jahres die Runde und diese Mundpropaganda verstärkte sich sogar noch im März, als der Film auf dem South by Southwest gezeigt wurde und man sollte dabei nicht vergessen, dass es sich bei beiden Festivals NICHT um reine Phantastik-Veranstaltungen handelt.
Auch die eingangs erwähnten Reaktionen nach der Pressevorführung waren ähnlich. Einen Horror-Film wie "Hereditary" hat es etliche Jahre nicht mehr gegeben, selbst "The VVitch" oder "The Killing of a Sacred Deer" sind von der Wirkung her im Vergleich schwach, da sie hauptsächlich auf ihren visuellen Impact setzen. Aster hingegen lässt das Grauen in eine "normale" Welt einbrechen und wiegt den Zuschauer ziemlich lange in Sicherheit bis er ihm dann - erst in der beschriebenen Art und Weise in der Mitte und dann nochmals am Ende des Filmes - den Teppich unter den Füssen wegzieht, was zu jeweils recht schmerzhaften Stürzen führt.
Seit dem "Exorzist III" hat es kein Film mehr im Kino geschafft mich so in den Sessel zu drücken und sprachlos zurückzulassen. Angucken!