PSYCHOHORRORDRAMA: GB, 2009
Regie: Philip Ridley
Darsteller: Jim Sturgess, Clémence Poésy, Joseph Mawle, Timothy Spall
Jamie ist ein netter Kerl, doch wegen eines entstellenden Feuermals im Gesicht praktisch ohne Selbstwertgefühl. Eines Tages bricht in Jamies Stadtteil buchstäblich das Chaos aus. Nachts streifen dämonische Jugendgangs durch die Straßen und verüben grausame Verbrechen. Als auch Jamies Mutter getötet wird, sinnt der Junge auf Rache. Mit einer Schusswaffe in der Tasche macht er sich auf die Suche nach den Schuldigen und stößt irgendwann auf den mephistophelischen Papa B. Der unterbreitet Jamie das Angebot auf ein glücklicheres Leben; es ist ein Pakt mit dem Teufel
KRITIK:15 lange Jahre mussten wir auf ein Lebenszeichen in DVD-Form von Philip Ridley warten. Aber da der Brite bekanntermaßen ein Universalgenie ist, das nicht nur Filme dreht, sondern auch Bücher schreibt und Theaterstücke inszeniert und darüber hinaus auch noch als Fotograf tätig ist, können wir davon ausgehen, dass der Gute in der Zwischenzeit nicht nur sinnlos in der Bude gehockt und die Taschenliane geschwungen hat.
HEARTLESS bedeutet seine Rückkehr ins Filmfach nach den beiden preisbedachten und von Kritikern geschätzten Vorgängerwerken THE REFLECTING SKIN und THE PASSION OF DARKLY NOON.
Offenbar hat Ridley so einige Pläne gehabt; mit dem schüchternen, von einem Muttermal entstellten Charakter Jamie, den er dort leben lässt, wo er - Ridley - aufgewachsen ist. Nämlich im Londoner East End, dem nicht unproblematischen sozialen Brennpunkt der englischen Hauptstadt.
Er hat sich Jamie als Hauptfigur in einem berührenden Außenseiter- und Sozialdrama vorstellen können. Aber auch als tragischen Helden eines Horrorfilms. Und verdammt, dieses Feuermal, das sich über eine gesamte Gesichtshälfte zieht und dem Selbstwertgefühl einen Knacks fürs Leben gegeben hat; ist das nicht geradezu prädestiniert als Grundlage für einen Pakt mit dem Teufel und könnte man HEARTLESS dann auch nicht als eine Art "East End Faust meets Mephisto" angehen?
Da jede der genannten Zutaten Stoff für einen interessanten Film ergibt, ist wohl nachvollziehbar, dass Ridley vor einer unlösbaren Qual der Wahl gestanden und letzten Endes einfach alles in einen Topf geworfen hat. So beginnt HEARTLESS als berührendes (und vor allem glaubwürdiges) Außenseiterdrama, das in einem Problembezirk spielt. Doch die vermeintliche Milieustudie bekommt schnell den (Bei-)Geschmack des Horrors, wenn Ridley scheinbar nicht menschliche, sondern dämonische Straßengangs in Spiel bringt, die völlig wahllos drastische Gewalttaten begehen und mich so etwas an die NOMADS aus dem gleichnamigen eher unbekannten Horrorfilm von John McTiernan erinnert haben.
Doch spätestens wenn Jamie in einem Anflug von DEATH WISH auf seinen Mephisto trifft, sind nicht nur die NOMADS, sondern auch der gute alte Faust eine Referenz. Und man mag es nicht für möglich halten; aber das war noch längst nicht alles. Im Repertoire von Philip Ridleys dritten Film gibt es außerdem noch eine nette Liebesgeschichte, einen (alles auf den Kopf stellenden) Endtwist und eine bewegende Schlusssequenz mit Tränchen vor und auf dem Bildschirm.
Bisschen viel auf einmal, meint ihr? Dieser Gedanke kam mir während des Films auch; zumeist immer dann, wenn HEARTLESS wieder einmal eine 180 Grad-Wende gemacht hat oder von einem Genre ins nächste gesprungen ist, oder gar zwei Genres parallel hat laufen lassen. Denn - auch wenn alle Versatzstücke für sich genommen toll funktionieren; als Einheit wirken sie nicht immer homogen. Unter diesem Aspekt ist die Leistung von Hauptdarsteller Jim Sturgess in der Rolle des Jamie nur umso bemerkenswerter; egal ob als schüchterner Junge mit Feuermal, gelackmeierter Faust oder als einer der sympathischsten Killer der Filmgeschichte - in HEARTLESS ist er in jeder façon ganz groß. Ach, und singen kann der Knabe auch noch!
Kennt ihr sie nicht auch? Die Qual der Wahl? Die einem immer dann befällt, wenn man als aufgeschlossener Cineast vor einer Filmauslage steht? Sehe ich mir heute ein bewegendes Außenseiterdrama ein? Eine Sozialstudie? Oder doch lieber einen Horrorfilm? Eine Liebesgeschichte? Was Faustisch-Klassisches oder einfach nur etwas Ungewöhnliches, nicht Alltägliches? Wenn ihr euch jetzt für Philip Ridleys dritten Film nach THE REFLECTING SKIN und THE PASSION OF DARKLY NOON entscheidet, braucht ihr zumindest keinen Einkaufswagen für eure Filme, denn HEARTLESS bietet von allem etwas und vieles davon sogar gleichzeitig. Das wirkt nicht immer homogen, aber ist durchgängig interessant. Und Jim Sturgess glänzt in der Hauptrolle!