OT: L' Apollonide (Souvenirs de la maison close)
DRAMA: F, 2010
Regie: Bertrand Bonello
Darsteller: Hafsia Herzi, Adele Haenel, Jasmine Trinca,
Das L'Apollonide: Ein sogenanntes Amüsier-Lokal in Paris, kurz vor dem Anbruch des 20. Jahrhunderts. Hier treffen sich die Spitzen der Gesellschaft. Man übt sich in der Kunst des Smalltalks, badet in Champagner und geht irgendwann mit den Schönen der Nacht aufs Zimmer. Doch manche der ach-so kultivierten Freier entpuppen sich nicht nur als ausgesprochene Ungustln, sondern als gefährliche Irre. Und langsam, ganz langsam, bricht der Horror ein in die glamouröse Oberflächenwelt des Luxus-Bordells ...
Täusch ich mich, oder gibt es in unseren Kinos einen Trend zum künstlerisch wertvollen Hurenfilm? In TAG UND NACHT versuchten zwei Wiener Studentinnen als Escort-Girls. In DAS BESSERE LEBEN waren zwei Pariser Studentinnen und Teilzeit-Callgirls auf der Suche nach selbigem. Der stets unberechenbare Michael Glawogger zog für WHORES' GLORY durch Bordelle in Asien und Mittelamerika, und der kleine australische Thriller SLEEPING BEAUTY schickte eine sich prostituierende Studentin (schon wieder!) in ein unheimliches Albtraum-Szenario irgendwo zwischen Michael Haneke und Marquis de Sade.
Der jüngste Beitrag zur Arthouse-Hurenfilmwelle stammt vom Bertrand Bonello, ein, wie man so schön sagt, "junger Wilder des französischen Kinos" (Zitat Kurier). Okay, für einen jungen Wilden schrammt der Film stellenweise doch recht hart an der Grenze zur Altherren-Phantasie vorbei. Aber das nur nebenbei, für den Fall, dass jemand zwanghaft nach Kritikpunkten suchen sollte.
Denn des HAUS DER SÜNDE ist eine filmisch ausgesprochen ansprechende Angelegenheit geworden. Mit opulentem Ausstattungspomp und einem Detailreichtum, der jedem Kostümfilm zur Ehre gereicht, ist Bonellos Film nichts weniger als eine Augenweide. Zeigefreudig sind die Franzosen bekanntlich sowieso - wobei in den zahlreichen Nacktszenen vor allem Biberfreunde auf ihre Kosten kommen. Eigentlich logisch für einen Film, der um die Jahrhundertwende spielt. Und an dieser Stelle einen lieben Gruß an den werten Kollegen Johannes ;-)
Selbstredend haben wir es hier aber nicht mit einem Sexploitation-Reißer zu tun, sondern mit filmischer Hochkultur. Spekulative oder voyeuristische Ausbeutung seines Themas wird der Regisseur wohl wütend von sich weisen.
Wer sucht, kann auch in Sachen kapitalismuskritischem Subtext fündig werden: Zwischen Opium-Rauchschwaden und Champagner-Bad wird schnell klar, welches Spiel hier gespielt wird. Im Nobelbordell verkehren die Reichen und Mächtigen mit den Ärmsten und Entrechteten. Der dekadente Luxus gehört den Freiern. Die Damen (allesamt aus unteren gesellschaftlichen Schichten) sind mittellos und hoch verschuldet.
Dass sie dennoch kultiviert wie Literaturnobelpreisträgerinnen parlieren, mag als atmosphärische Überhöhung durchgehen. Wie überhaupt Atmosphäre mit großem A geschrieben wird in dieser Ausstattungsorgie von einem Film.
Dass das Geschehen im Haus der Sünde nicht unbedingt auf ein Happy End zusteuert, war abzusehen. Dass der Horror schleichend - nein, eher mit einem heftigen, an dieser Stelle wirklich unerwarteten Schock-Moment - Einzug in die dekadente Scheinwelt des Luxus-Bordells hält, ebenso. Der Schluss-Moment - keine Angst, keine Spoiler hier - mag ein krasser Stilbruch sein. Aber konsequent ist er, das muss man ihm lassen.
Vom Leben, Lieben, Leiden und Sterben im Freudenhaus: Der junge französische Filmemacher Bertrand Bonello entwirft ein bildgewaltiges Sittengemälde eines untergehenden Bordell-Betriebs kurz vor der Jahrhundertwende. Das ist genauso erotisch wie melancholisch und stellenweise durchaus verstörend bis schockierend. Zupackendes, sehr heutiges Kino in klassisch-opulenter Verpackung.