OT: Suspension of Disbelief
EROTIK-THRILLER/EXPERIMENTALFILM/MEDIENREFLEXION: Großbritannien, 2012
Regie: Mike Figgis
Darsteller: Sebastian Koch, Lotte Verbeek, Emilia Fox
Martin (Sebastian Koch) ist ein deutscher Schriftsteller und Drehbuchautor, der bereits seit längerer Zeit in London wohnt. Vor 15 Jahren verschwand Martins Frau unter bis heute ungeklärten Umständen. Der Fall beginnt die Polizei erneut zu interessieren, als die verführerische Französin Angelique (Lotte Vorbeek) tot in der Themse aufgefunden wird, nachdem sie in der Vornacht zusammen mit Martin gesehen wurde. Die Dinge beginnen weiterhin komplizierter und mysteriöser zu werden, als auch noch eine Zwillingsschwester von Angelique auftaucht...
"Die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit (engl. willing suspension of disbelief) ist eine Theorie, die das Verhalten von Menschen gegenüber künstlerischen Werken zu erklären versucht. Die Theorie wurde 1817 von dem Dichter, Literaturkritiker und Philosophen Samuel Taylor Coleridge formuliert. Sie bezieht sich auf die Bereitschaft eines Rezipienten, die Vorgaben eines Werkes der Fiktion (etwa eines Romans oder eines Spielfilms) vorübergehend zu akzeptieren, sogar wenn diese fantastisch oder unmöglich sind. Sie erklärt auch, warum das Wissen des Publikums um die Fiktivität des Erzählten sich nicht störend auf den Kunstgenuss auswirkt. Gemäß dieser Theorie ist die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit ein quid pro quo mit dem Werk: Der Leser oder Zuschauer willigt ein, sich auf eine Illusion einzulassen, um dafür gut unterhalten zu werden."
Wikipedia (Artikel: "Die willentliche Aussetzung von Ungläubigkeit")
So lautet die reichlich sperrige Erläuterung des englisches Ausdrucks SUSPENSION OF DISBELIEF, wie der Originaltitel dieses Films lautet. Der deutsche Titel GEFÄHRLICHE BEGIERDE klingt da schon wesentlich peppiger, insbesondere wenn man auch noch den dezenten Untertitel IM RAUSCH DUNKLER GELÜSTE hinzunimmt. Mit dunklen Gelüsten in Verbindung mit (Voll-)Räuschen kennt sich Regisseur Mike Figgis spätestens seit seinem niederschmetternden Alkoholiker-Drama LEAVING LAS VEGAS (1995) zwar bestens aus. Das ändert jedoch nichts daran, dass dieser Titel im Falle des vorliegenden Films reiner Etikettenschwindel ist.
Was Figgis hier als Autor, Regisseur, Kameramann, Cutter und Filmmusiker in Personalunion geschaffen hat, sieht zwar durchaus von Zeit zu Zeit recht sexy aus. Knistern tut in diesem Film jedoch höchstens das Papier, auf dem ein Bulle ein gnadenlos schlechtes Drehbuch verewigt hat. Über die Kunst der richtigen Dramaturgie doziert Martin auch an einer Filmhochschule in London. Mit der Zeit vermischen sich immer mehr Martins Dramaturgietipps und Drehbuchideen mit den Geschehnissen, in seinem eigenen Leben. Vielleicht ist dieses Geschehen aber auch nur reine Fiktion, welche der Fantasie dieses Autors entsprungen ist. Schließlich geht es hier nicht um solche Banalitäten wie Spannung oder Sex, sondern um das kluge Vorexerzieren der tieferen Bedeutung des Ausdrucks SUSPENSION OF DISBELIEF.
Zu diesem Zwecke bedient sich Mr. Figgis ganz offen bei Jean-Luc Godard (ZWEI ODER DREI DINGE, DIE ICH VON IHR WEISS, 1967) und bei Brian De Palma (FEMME FATALE, 2002). Von Godard übernimmt Figgis den intellektuellen und medienreflexiven Ansatz und formelle Spielereien wie Zwischentitel in Primärfarben und wilde Kombinationen von Bild und Schrift. Bei De Palma hat sich Figgis hingegen die mysteriöse Verwebung verschiedener Realitätsebenen im Gewand eines Erotik-Thrillers und das Thema der Doppelgängerin abgeguckt. Nur leider klingt dies jetzt alles wesentlich spannender, als das Ergebnis tatsächlich ist. Bei der eindeutigen Orientierung an solchen großen Vorbildern, hat sich Figgis ein paar Schuhe angezogen, das ihm einfach zwei Nummern zu groß geraten ist. Der tiefere Anspruch des Films bleibt bis zum Ende nur behauptet und auch die Kombination aus Genre- und Experimentalfilm geht nie richtig auf.
Wo GEFÄHRLICHE BEGIERDE überzeugen kann, dass ist die handwerkliche Ebene. Figgis gelingen zahlreiche Bilder von großer Schönheit, die manchmal auch wirklich recht innovativ sind. Die Einzelbilder, der Schnitt und die Musik: Alles passt hier perfekt zusammen. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Figgis dies alles fast im Alleingang bewältigt hat. Aber richtige Spannung mag in diesem doch sehr spröden Streifen einfach nicht aufkommen. Der Film-im-Film-Aspekt ist zwar prinzipiell interessant. Nur ist das Thema auch nicht mehr so neu und so tiefgründig, wie uns Figgis glauben machen will. Und auch wenn Sebastian Koch (DAS LEBEN DER ANDEREN, 2005) sich alle Mühe gibt immer möglichst tiefsinnig zu schauen, so kratzt das Ganze doch viel zu sehr an der Oberfläche, um wirklich zu faszinieren.
Mit seinem Film SUSPENSION OF DISBELIEF aka GEFÄHRLICHE BEGIERDE - IM RAUSCH DUNKLER GELÜSTE versucht Mike Figgis einen ganz großen Wurf zu landen, indem er eine hoch philosophische Reflexion über das Wesen der Fiktion in das Gewand eines prickelnden Erotik-Thrillers packt. Das mag zumindest die Idee gewesen sein. Nur leider prickelt weder die Erotik, noch kommt Figgis´ prätentiöser Ansatz jemals über eine stilvolle Fingerübung hinaus.