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GOOD MOVIES FOR BAD PEOPLE
Feuchtgebiete

Feuchtgebiete

DRAMA: D, 2013
Regie: David Wnendt
Darsteller: Carla Juri, Peri Baumeister, Meret Becker, Axel Milberg, Edgar Selge

STORY:

Hygiene wird bei Helen kleingeschrieben. Und Rasieren ist ihr überhaupt ein Gräuel. Sie tut es aber trotzdem, weil die feinen Härchen um den Anus beim Sex lästig sind. Autsch - die Klinge rutscht ab. Helen schneidet sich so heftig, dass sie operiert werden muss. Im Krankenbett hat sie viel Zeit, über ihr Sexleben, ihre dysfunktionale Familie und ihre darob wenig stabile psychische Verfassung nachzudenken. Und Pfleger Robin hat alle Hände voll zu tun ...

KRITIK:

Täusch ich mich, oder wird die Jugend immer schreckhafter, was von der Norm abweichende Sexualmoral im Film betrifft?

Indiz #1: Vor ein paar Jahren hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, Kevin Smiths Komödie ZACK AND MIRI MAKE A PORNO in einem Vorstadt-Multiplex zu sehen. Mit entsprechendem Publikum. Bei der Szene, in der die beiden Pretty Gay-Boys sich lang und breit unterhalten, welche Körperteile sie auf welche Art und Weise in den Mund nehmen, erschallten lautstarke Unmutsäußerungen aus den hinteren Reihen, aus denen echter, ironiefreier, wahrhaftig empfundener Ekel sprach. Die drei jungen Damen und der Mann verließen den Saal kurze Zeit später, schimpfend und wutschnaubend. Und hoffentlich nicht allzu sehr traumatisiert von den schwulen Ungeheuerlichkeiten auf der Leinwand.

Indiz #2: Kollege Marcels wundervoller "Lutsch meine Wumme"-Erlebnisbericht über eine Spring Breakers-Vorstellung aus der Multiplexhölle, nachzulesen hier.

Indiz #3: Diese moralisch leicht empörte Feuchtgebiete-Rezension bei der lieben Konkurrenz. Der Schlusssatz ist allerdings ein Statement, das man sich erst einmal trauen muss. Alle Achtung.

Feuchtgebiete also. Vermutlich das erste Mal in der Filmgeschichte, dass einer Romanverfilmung auf breiter Front attestiert wurde, besser zu sein als das Buch. Selbst der gestrenge Spiegel gab seinen Sanktus und lobte Regisseur David Wnendt, weil es ihm gelungen sei, aus einer dürftigen Vorlage mehr als einen Aufreger herauszuholen.

Was die "dürftige Vorlage" angeht, muss ich allerdings widersprechen. Auch wenn mich jetzt die Literatur-Auskenner mitleidig belächeln, halte ich Charlotte Roches Roman für ein ausgesprochen gutes Buch, das ich in Null-Komma-Nichts verschlungen hatte. Das mich Avocados mit anderen Augen sehen ließ. Und - ernsthaft jetzt - dessen Anliegen, gegen einen übertriebenen, letztlich körper- und lustfeindlichen Hygiene- und Reinlichkeitszwang zu Felde zu ziehen, man gar nicht genug loben kann im Zeitalter der normierten, aseptischen, krank und unglücklich machenden Photoshop-Schönheitsideale.

Wer es gelesen hat, wird mir vielleicht zustimmen: Das Buch ist eigentlich unverfilmbar. Helens seitenlange Schilderungen über Muschigeschmack ("Ich mache schon lange Experimente mit nicht gewaschener Muschi. Mein Ziel ist es, dass es leicht und betörend aus der Hose riecht. [..] Das wird von Männern dann nicht bewusst wahrgenommen, aber doch unterschwellig, weil wir ja alle Tiere sind, die sich paaren wollen. Am liebsten mit Menschen, die nach Muschi riechen"), Sperma, öffentliche Toiletten, getauschte Tampons und dem Sexandenlenkaubonbon sind erstklassiges Kopfkino. Aber als Leinwand-Kino? Schwer vorstellbar.

Gleich drei Autoren haben an der Drehbuch-Adaption der Romanvorlage gewerkelt. Erwartungsgemäß wurde der Sex- und Ekel-Faktor auf ein leinwandkompatibles Maß heruntergepegelt, während den dramatischen Aspekten der Geschichte ungleich mehr Raum gegeben wurde. Dass Feuchtgebiete - der Film - trotz verhältnismäßig rudimentärer Geschichte ziemlich gut funktioniert, ist auch das Verdienst der Hauptdarstellerin Carla Juri, der jetzt vermutlich die große weite Film-Welt offensteht.

Regisseur David Wnendt scheint ein Faible für starke Frauenfiguren sein Eigen zu nennen. Sein allseits gelobter Erstling "Kriegerin" begleitete eine junge Frau beim Ausbruch aus dem Neonazi-Milieu. Krankte "Kriegerin" für mich noch an den typischen budgetbedingten und formalen Schwächen einer Filmhochschul-Abschlussarbeit, so gibt es in Feuchtgebiete diesbezüglich kein Halten mehr: Helens tabubefreites Sexualleben wird in grelle, poppige Bilder getaucht. Nicht gerade billig wirkende Computer-Animationen, rasante Schnitte und ein subkulturell geerdeter Soundtrack (Peaches!) federn den Blut- und Spermafaktor ab.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Trotz seiner - fast hätte ich gelackter Videoclip-Optik geschrieben - ist Feuchtgebiete über weite Strecken immer noch ein ziemlich heftiger Brocken. Ohne dem Bestseller im Rücken wäre der Film wohl in Mini-Auflage bei einem auf transgressives Kino spezialisiertem DVD-Label wie "Kino Kontrovers", "Störkanal" oder "Bildstörung" veröffentlicht worden.

So aber wird Feuchtgebiete als deutsche Gross Out-Komödie vermarktet auf die ahnungslosen Multiplex-Besucher losgelassen.

Nun bin ich der Letzte, der meint, dass eine bestimmte coole Klasse von Filmen lediglich einer bestimmten coolen & elitären Publikumsschicht zugänglich sein soll. Aber ob ein Film, in dem immer noch genug Blut, Sperma, Eiter, Kot und andere Körperflüssigkeiten durch die Gegend spritzen, dass auch mir abgebrühtem Hund etwas flau im Magen wurde, als Blockbuster taugt, wird sich weisen. Ich hätte meine Bedenken. Siehe oben ...

Feuchtgebiete Bild 1
Feuchtgebiete Bild 2
Feuchtgebiete Bild 3
Feuchtgebiete Bild 4
Feuchtgebiete Bild 5
FAZIT:

Bereit für Helen? Die Leinwand-Adaption des eigentlich unverfilmbaren Tabubruch-Bestsellers von Charlotte Roche versteckt seinen ziemlich krassen, psychotischen Inhalt im durchaus fragwürdigen zuckerlbunten Gewand einer locker-fluffigen Pop-Komödie. Mogelpackung nennt man das wohl. Sehenswert? Natürlich, trotzdem.

WERTUNG: 7 von 10 Avocadokerne
Dein Kommentar >>
vlt. prüde | 16.02.2015 08:04
Meiner Meinung nach keine Story vorhanden. Nur
soviel Ekel hinein gesteckt wie es nur geht. Das
ist, wie ich finde, kein sehenswerter Film. Hätte
ich mir auch sparen können. Aber das ist nur
meine Meinung.
>> antworten
Lärm | 07.09.2013 23:45
Viel Lärm um (fast) nix.
Werd den Film in etwa 3h vergessen... außer ich hab
Lust auf Pizza. Mit viel Käse.
Wirklich lustig wirds aber wenn man den mit einer
Freundin sieht. Eine die ne sehr knappe Schamgrenze
hat ;) Das war unterhaltsamer als der Film :)
"Ihhh... Ähhh.. !?" Toll!
>> antworten
thomas | 07.09.2013 07:27
Was mich an diesem Film störte war die Tatsache dass im Buch Helen einfach so ist wie sie ist, im Film wurde leider eine Erklärung mit einer Tragischen Kindheit plus zugehöriger verkorksten Mutter konstruiert, das wie ich finde aber nicht dem Geiste des Originals entspricht. Aber egal Film ist Film und Buch ist Buch. Man spricht ja immer von der Generation Porno diese ist aber anscheinend prüder als manche Sittenwächter denken. Wie es mir auch noch immer ein Rätsel ist wieso diese Buch überhaupt so viel Aufregung erzeugte. Ein ganz normales Buch über das Erwachsenwerden plus ein Manifest gegen das angepasst sein wie ich finde. Diese Themen gab?s aber schon zig Mal in der Literatur und Film Geschichte aber man muss sich ja über irgendetwas Aufregen wenn man nur Gott hat.
>> antworten
Federico | 28.08.2013 10:17
Keine geht mit mir ins Kino... :(
Fedi | 28.08.2013 10:18
Und keineR. Sowohl als auch, hier sind sich die
Geschlechter offenbar einig.
Ralph | 28.08.2013 11:56
Mir geht's genau so. Hau ma uns auf a Packl?
Harald | 28.08.2013 12:07
ich war ja schon - in Begleitung :)
Es waren übrigens ausschließlich Frauen im Kino. Votivkino, Freitag, Spätvorstellung.
Fedi | 29.08.2013 14:40
Ein filmtipps-film-date? Mjäh, ich versuch noch meine Freundin vom Film zu überzeugen... ;)
>> antworten
Mindripper | 27.08.2013 15:43
Der Film hat mir sehr gut gefallen. Es ist jedoch einer der ekelhaftesten die ich je gesehen habe. Und ich habe unter anderem die Vomit Gore Trilogy, Melancholie der Engel und Salo bei mir im Regal stehen.
Harald | 27.08.2013 17:31
Salo sollte eigentlich in jedem Regal stehen. Bei den anderen (die ich jetzt googlen musste, ich geb's ja zu), bin ich mir nicht so sicher.
Harald | 27.08.2013 17:35
Wobei: Solo ist doch ein etwas anderes Kaliber. Da kommt Feuchtgebiete nicht mal ansatzweise in die Nähe.
Mindripper | 27.08.2013 22:13
Dass Salo ein ganz anderes Kaliber ist steht außer Frage. Ich wollte nur damit sagen, dass Feuchtgebiete mich mehr geekelt hat als sogar viel härtere Filme wie Salo oder A Serbian Film. Der einzige Film, oder besser gesagt Szene, bei der mich wirklich ein bisschen übergeben musste war die Wurmszene bei Mermaid In A Manhole.
Manchmal sind es jedoch eben kleinere Sachen die einen ekeln. So kann ich ohne Problem ansehen wie jemand in einem Film ziemlich splattrig ermordet wird, zucke aber zusammen bei Szenen wo jemand sich die Nägel bricht wie die in P2, oder als Natalie Portman sich ein Stück Haut vom Finger abzieht.
Ich bin jedoch 'glücklich' darüber, dass es mal wieder einen Film gibt (der sogar ab 16 und eine Komödie ist!)der mich richtig angeekelt, und das ist schon schwer wenn man schon Filme in der Sammlung hat, die zu den extremsten überhaupt gehören. Hut ab!
Chris | 28.08.2013 00:31
Wobei ich persönlich MELANCHOLIE DER ENGEL als meine
persönliche filmische Extrem-Erfahrung nennen würde. In der
Kollisionskraft einem SALO nicht unähnlich. Beides sind Filme, die
mich sehr lange nach Abspann noch beschäftigt (und auch
irgendwie fasziniert) haben; doch beides sind auch ganz sicher
Filme, bei denen ich nicht sicher bin, ob ich sie jemals wieder sehen
möchte.
Fedi | 28.08.2013 10:16
Hat keine Ahnung und googelt "Melancholie der
Engel"... naaaa toll: schon wieder ein Film, bei dem
ich mich solange winde, bis die Neugier doch zu groß
ist. Damn you, filmtipps.at.
Mindripper | 28.08.2013 11:25
Melancholie der Engel sah ich als eine Mischung von Last House On The Left (einer der Männer sah sogar win bisschen wie Krug aus und David Hess hat ja Auch bein Soundtrack mitgeholfen) und Salo. Der Film hatte ein paar sehr üble Szenen auf Lager (wie die mit dem künstlichen Darmausgang), aber im großen und ganzen hatte er mich nicht so verstört, eine Szene hatte mich jedoch sehr traurig gemacht, und das war die am Feuer, die mit einem Lied von David Hess untermalt war. Das Lied war traurig, es gab eine Verbrennung und musste an David Hess denken, der ja verschieden ist. Es war, als ob es der Schwanengesang von Hess wäre.
Filme die mich verstört haben waren die All Night Long Filme (am meisten Teil 2 und 3), Kidnapped, Last House On Dead End Street und Where The Dead Go To Die, ein Animationsfilm der so blasphemisch ist und so viele Tabus bricht dass man es kaum glauben kann.
Johannes | 28.08.2013 13:30
Melancholie der Engel hab ich jetzt auch mal gegoogelt. Ich glaube kaum, dass meine Neugier zu groß werden kann. Dafür müsste überhaupt erst mal welche da sein.

Hat der "Film" überhaupt eine Handlung? Zumindest eine die über die im Wikipedia-Eintrag erwähnte hinausgeht?
Mindripper | 28.08.2013 14:07
Der Film hat keine richtige Handlung. Jeder der den Film gesehen hat sagt, er hätte ihn nicht verstanden. Es wird mehr auf Symbolik gesetzt als auf eine Handlung. Der Film wurde Auch von Marian Dora gemacht, er hat Auch den Film Cannibal gemacht. Ich denke, ich schaue mir Melancholie der Engel heute Abend noch einmal an, denn ich habe ihn zuletzt letztes Jahr gesehen als ich mir die DVD gekauft habe. Die DVD gibt es auf Amazon und ist auf 1000 Stück limitiert.
Apropos verstöhrende Filme, übermorgen erscheint veröffentlicht Bildstörung endlich die DVD/Blu-Ray von Singapour Sling. Hätte nie gedacht dass der Film ungeschnitten in Deutschland erscheint, nach all dem was ich von dem Film gehört habe. Und später dieses Jahr veröffentlicht Bildstörung ja auch El Topo und The Holy Mountain.
>> antworten
Cannibal Orange | 25.08.2013 13:19
Wundervolles Review!
Ich kann mich dem Thomas nur anschließen, ich bin unglaublich froh, dass es filmtipps gibt, wo kluge und weltoffene Menschen einen viel weiteren Blick auf Kontroverses-Zeug zeigen, als so viele andere Journalisten und Kinogänger.

Danke an dich Harald und deine Leute, ihr seid voll dufte! :)

PS an Harald: Ich war auch sehr froh zu lesen, dass du das Buch schätzt und auch dessen Botschaft siehst. Ich bin auch immer wieder erstaunt, wie gerade junge Leute sehr verurteilend mit ungewöhnlichen Auffassungen von Sex und dem Umgang mit dem Körper sind.
Als ich einmal in einer Schulvorstellung von "Das Leben der Anderen" saß, schrien 90% der Schüler (Alter damals ca. 15-17) vor Ekel auf, als die Prostituierte sich auszog und völlig selbstverständlich ihre Speckfältchen entblößte.
Ich habe mich in dem Moment so geschämt, in dieser Vorstellung zu sitzen. :(


Harald | 27.08.2013 17:34
Danke, danke. Aber ohne unsere lieben Leser, die die Kommentarfunktion nutzen, um uns zu loben - oder auch zu tadeln, wenn's mal nötig ist, wär unsere Arbeit nur der halbe Spaß. Deshalb das Lob gerne zurück.
>> antworten
thomas | 25.08.2013 11:26
Was ist mit den Leuten bei Filmering?Hab mich schon bei deren Kritik zu Only God forgives gefragt ob die vielleicht eher zum Ring der prüden Kirchengeher zählen. Bin froh das es dich und Filmtipps gibt.
Harald | 25.08.2013 11:52
Danke :)
In einem Punkt hat die vermutlich sehr junge
Kollegin allerdings recht: Helens Verhalten ist
selbstverständlich nicht "normal", sondern das
Resultat einer psychischen Störung. Aber darf man
das im Film nicht darstellen? Soll Kunst nur
saubere, ordentliche, schöne, frisch gewaschene und
gekämmte Menschen zeigen, die saubere, nette und
brave Dinge tun? Die Mehrheit der Kinobesucher sagt
wahrscheinlich: Ja. Somit hat diese Filmering-
Rezension auch ihre Berechtigung, weil sie wohl die
Mehrheitsmeinung vertritt.
Völlig lächerlich ist allerdings die Behauptung,
dass es expliziten Sex in früheren Filmen nicht
gegeben hätte. Geh bitte, ich schenke der jungen
Dame meine "Im Reich der Sinne"-DVD ...
>> antworten