OT: A Woman Under the Influence
DRAMA: USA, 1974
Regie: John Cassavetes
Darsteller: Gena Rowlands, Peter Falk, Fred Draper, Lady Rowlands
Nick Longhetti (Peter Falk) arbeitet als Vorarbeiter beim Bau, während seine Frau Mabel (Gena Rowlands) zuhause auf ihre drei Kinder aufpasst. Sie versuchen die perfekte amerikanische Vorstadtmusterfamile abzugeben. Doch unaufhörlich bröckelt die Fassade und Mabel steuert unaufhaltsam auf eine handfeste Psychose zu ...
Martin Scorsese hat völlig Recht, wenn er feststellt, dass die Filme von John Cassavetes so absolut anders, als die Filme jedes anderen Filmemachers sind. Insbesondere mit den typischen Hollywoodfilmen haben die Werke des wohl bis heute bedeutendsten amerikanischen Independent-Filmemachers äußerst wenig gemein. John Cassavetes Filme verzichten auf eine sorgfältig konstruierte Dramaturgie zugunsten einer an ein Theaterstück erinnernden Unmittelbarkeit. Eine klare Aufteilung der Charaktere in Gut und Böse fehlt hier sowieso. Die Protagonisten dieser Filme sind allesamt sehr ambivalent und sehr fehlerhaft. Doch gerade dadurch werden sie auch äußerst real und bergen ein starkes Identifikationspotential.
Diesen geradezu übersteigerten Realismus treibt John Cassavetes in EINE FRAU UNTER EINFLUSS, seinem persönlichen Lieblingsfilm, auf die Spitze. Hier ist die amerikanische Vorstadt nicht die aus vielen anderen Filmen bekannte traute Idylle (in die dann öfter mal umso heftiger das absolute Grauen einbricht), sondern insbesondere eines, nämlich schrecklich banal. Wenn Nick beim Bau arbeitet, dann ist dies genauso langweilig, wie es klingt. Und auch zuhause erwartet ihn nicht ein liebevoll gepflegtes, warm-wohliges Nest, sondern ein ziemliches Chaos. Aber auch dieses Chaos ist nicht spektakulär, sondern bei all seiner Andersartigkeit zugleich ebenfalls ungemein banal.
Das einzig Spektakuläre an diesem Film ist dieses Ehepaar an sich. Erst nach und nach bekommen wir mit, wie gestört sowohl Mabel, als auch Nick in Wirklichkeit sind. Auch ihre Beziehung ist unendlich kompliziert. Dabei versuchen sie nie etwas anders, als ganz einfach möglichst normal zu sein. Doch dies gelingt gerade Mabel nur mit äußerster Mühe und mit stets nachlassendem Erfolg. Anfangs denken wir vielleicht noch, dass dies ein Film über die Leiden des Ehemanns einer gestörten Frau ist. Aber nach und nach wird immer klarer, dass Nick auf seine Art ähnlich verrückt wie Mabel ist.
Doch bei allen immer bizarrer werdenden Aussetzern von Mabel, verkommt A WOMAN UNDER THE INFLUENCE niemals zu einer reinen Freakshow. Stattdessen zeichnet dieser Film das einfühlsame Portrait einer Frau, welche den Rand zum Nervenzusammenbruch bereits überschritten hat. Zugleich zeigt er aber auch die unglaublich schwierige Beziehung eines Ehepaars, das ebenso gewöhnlich, wie verrückt ist und das sich wirklich liebt, aber zugleich einfach nicht miteinander kann.
Dabei verzichtet Cassavetes hier endgültig auf jede Art von inszenatorischen oder wenigstens visuellen Finessen, wie sie z.B. noch FACES auszeichneten, zugunsten einer noch größeren emotionalen Unmittelbarkeit. Diese Vorgehensweise macht EINE FRAU UNTER EINFLUSS aber auch zu einer zeitweise recht mühsamen Seherfahrung. Doch spätestens, wenn sich am Ende des Films eine Art von Lösung abzeichnet, welche ebenso ungewöhnlich wie dieses scheinbar ganz gewöhnliche Ehepaar ist, wissen wir, dass es eine äußerst lohnenswerte Erfahrung war, diesem fast zweieinhalbstündigen filmischen Experiment beiwohnen zu dürfen.
John Cassavetes persönlicher Lieblingsfilm A WOMAN UNDER THE INFLUENCE ist sicherlich ein potentieller Hassfilm für alle eingeschworenen Hollywoodfans. Denn diesem Werk geht so ziemlich alles ab, was einen gewöhnlichen Film sehenswert machen kann. Wer jedoch auch Filme mag, welche mindestens so wahr wie das richtige Leben sind, der könnte hier einen neuen Lieblingsfilm entdecken. Oder es geht ihm wie Martin Scorsese. Dieser schätzt John Cassavetes Filme zwar über alles, mehr als einmal ansehen mag er sie sich jedoch trotzdem nicht unbedingt.