DRAMA: P/I, 2022
Regie: Jerzy Skolimowski
Darsteller: Sandra Drzymalska, Isabelle Huppert, Lorenzo Zurzolo
EO heißt der tierische Protagonist dieses Films, ein Zirkusesel, der von Tierschutz-Aktivisten befreit wird. Damit hat man dem Tier aber nichts Gutes getan: Für EO beginnt eine Odyssee durch polnische Wälder, Wiesen und Städte. Mit ungewissem Ausgang.
Ich hab mir immer gewünscht, dass mal einer meiner Lieblings-Regisseure mit der Kamera in die freie Natur hinausgeht und eine Universum-Folge dreht. Einer mit einem besonders unverwechselbaren visuellen Stil, David Lynch vielleicht, James Cameron oder Terrence Malick.
Was der polnische Regisseur Jerzy Skolimowski, geboren 1938, hier abliefert, kommt dieser Vorstellung schon sehr nahe - und es zeigt einmal mehr, dass es die ältesten Regisseure sind, die die wagemutigsten Experimente eingehen. EO ist, wenn man so will, ein Roadmovie aus der Perspektive eines tierischen Protagonisten. Mit modernsten filmischen Mitteln (Drohnen-Aufnahmen, Stroboskop-Effekten, rückwärts laufenden Bildern etc.) in Szene gesetzt, mit einem prägnanten Soundtrack unterlegt, wirkt der Film einerseits enorm artifiziell, fast Konzeptkunst-like - und dennoch extrem spannend und emotional. Eine äußert ungewöhnliche Kombination.
Der Vergleich mit den poetischen, assoziativen Bilderwelten von Terrence Malick ist keineswegs zu hoch gegriffen. Mir kommt Jerzy Skolimowskis Stil aber konzentrierter, dringlicher und spannender vor.
Skandalöserweise ist der Mann relativ unbekannt, selbst unter Cineasten. Seit erotisches Coming of Age-Drama DEEP END gilt als Schlüsselfilm der Swinging Sixties, und in ESSENTIAL KILLING ließ er ausgerechnet den Trump-Supporter-Wirrkopf Vincent Gallo als islamischen Terrorverdächtigen (!) durch verschneite osteuropäische Wälder stolpern
Der Schritt von Vincent Gallo zu einem Esel mag intellektuell ein kleiner sein. Das Wagnis ist jedenfalls ein großes. Wie er auf die Idee gekommen ist, einen Film aus der Perspektive eines Tieres zu drehen, erklärt der Regisseur im Interview mit dem Standard: "Wir wollten keine lineare Erzählung von A nach B. Außerdem dachten wir an eine Tierfigur, das sollte uns eine neue Perspektive eröffnen, etwa durch den Verzicht auf Dialog. Das gesprochene Wort ist meiner Meinung nach immer eine Schwachstelle in Filmen. Ich neige immer zu experimentellen Lösungen in meinen Filmen. Vielleicht ist dieser der wagemutigste. Wir probieren optisch viel aus. Wichtig ist vor allem auch die Musik. Pawel Mykietyn ist ein klassischer Komponist. Seine Symphonien werden in Konzertsälen auf der ganzen Welt gespielt, er widmet sich aber mit gleicher Leidenschaft einem Soundtrack. Der ist entscheidend, weil der Esel ja nicht spricht. Die Musik ist der innere Monolog. Das hat Pawel geschaffen, der ganze Film beruht auf Emotionen."
Das kann man so stehen lassen: Der Film fordert Empathie für die Kreatur - nein, für alle Kreaturen ein und geht mit den Menschen bisweilen hart ins Gericht. Besonders die Szene mit den Fußball-Hooligans, die den Esel misshandeln (offscreen zwar), ist schwer zu ertragen. So schön der Film über weite Strecken ist, weil das Tier ja auch liebevolle Begegnungen mit Menschen erlebt: Ein Happy End, das einen fröhlich aus dem Kinosaal tänzeln lässt, ist EO nicht vergönnt. Wäre auch irgendwie verlogen gewesen.
PS: Im Abspann steht der übliche "No animals were harmed"-Disclaimer. Das wird schon stimmen. Dennoch dürfen ein paar kritische Fragen gestellt werden. Ob es zum Beispiel wirklich nötig war, dem Esel mehrmals Zigarettenrauch ins Gesicht zu blasen. Und am Ende wirkte er (bzw. einer der sechs Tiere, die für die Dreharbeiten verwendet wurden) ernsthaft verängstigt. Wie gesagt: Feelgood-Movie ist das keines.
Roadmovie aus Eselsperspektive: Dem polnischen Regie-Grenzgänger Jerzy Skolimowski (ESSENTIAL KILLING) ist ein visuell betörendes, herzzerreißendes Filmkunstwerk mit einem tierischen Protagonisten gelungen. In ausgewählten Programmkinos.