MYSTERY: D/A, 2012
Regie: Julian Roman Pölsler
Darsteller: Martina Gedeck
Die Frau aus der Stadt mit dem weißen Sommerkleidchen und den hochhackigen Schuhen wirkt wie ein Fremdkörper, wenn sie auf der Holzbank vor der schlichten Jagdhütte sitzt. Sie wird hier übernachten - alleine - und am nächsten Morgen eine unfassbare Entdeckung machen: Eine unsichtbare Wand hat sie vom Rest der Welt getrennt. Von nun an ist auf sich allein gestellt - und muss ums Überleben im Alpin-Idyll kämpfen ...
"Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte. Ich bin ganz allein, und ich muss versuchen, die langen dunklen Wintermonate zu überstehen. Ich habe diese Aufgabe auf mich genommen, weil sie mich davor bewahren soll, in die Dämmerung zu starren und mich zu fürchten. Denn ich fürchte mich. Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu, und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht und überwältigt. Ich werde schreiben, bis es dunkel wird, und diese neue, ungewohnte Arbeit soll meinen Kopf müde machen, leer und schläfrig. Den Morgen fürchte ich nicht, nur die langen, dämmrigen Nachmittage".
Mit diesen Sätzen aus dem Off beginnt DIE WAND, die Verfilmung des gleichnamigen Romans der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer. Ein Buch übrigens, das erst nach dem Tode der Autorin zum Bestseller avancierte, als es von der Feminismus-Bewegung der 80er entdeckt wurde. Man - nein, besser frau interpretierte "Die Wand" als Kritik am Patriarchat. Dass dabei - Vorsicht, Mini-Spoiler voraus - alles Männliche getötet und eine starke, aber völlig asexuelle Weiblichkeit ikonisiert wird, würde ich persönlich jetzt doch ein bissl problematisch sehen, aber die Feminstinnen der 80er dürfte das naturgemäß nicht weiter gestört haben ;-)
Auch für Regisseur Julian Roman Pölsler war "Die Wand" ein Lebensbuch - aber höchstwahrscheinlich aus anderen Gründen. Sieben Jahre hat er nach eigenen Angaben an der Drehbuch-Adaption gearbeitet. Das Ergebnis ist ein Film, der sich mit größtmöglicher Genauigkeit an die Vorlage hält, die eigentlich unverfilmbar ist.
Es mag eine Binsenweisheit sein, dass Erzählerstimmen aus dem Off mehr schaden als nützen. Doch im Vertrauen auf die Brillianz des Textes pfeift Pölsler nonchalant auf diese ungeschriebene Regel. Das Voice Over bleibt auch die einzige Stimme, die wir im Film zu hören bekommen. Wie eine bebilderte Lesung führt sie durch die Handlung, die in der Gegenwart beginnt, und dann in Rückblenden die letzten zwei Jahre aufarbeitet.
Die Frau (großartig: Martina Gedeck) hat sich schnell mit der unfassbaren Situation arrangiert: Es gibt keinen Ausbruch, keinen Fluchtversuch, keine Verzweiflungstaten. Um zu überleben, muss sie sich der Natur unterordnen; muss Kartoffeln anpflanzen, Beeren sammeln, Holz hacken, Wild jagen.
Was vielleicht dröge und anstrengend klingen mag, ist in Wahrheit ein höchst spannender und auf subtile Weise verdammt unheimlicher Film - allerdings nicht unbedingt für jene Zeitgenossen, die für alles, was passiert, eine Erklärung und am Ende eine total logische Auflösung brauchen, damit bloß kein Funken an Verstörung und Verunsicherung übrig bleibt.
Ganz im Gegenteil, der Film lässt alles offen und wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. In den 108 Minuten seiner Laufzeit führt DIE WAND vor, was im heimischen Kino alles möglich ist, wenn man a) hervorragende Schauspieler verpflichtet und b) Profis auf Regiestuhl und Kamerawägen setzt und c) einmal die tristen Plattenbau-Schauplätze verlässt und die atemberaubende Schönheit der alpinen Naturkulisse zum eigentlichen Hauptdarsteller macht.
Das Ergebnis ist ein fast schon beängstigend guter Film zwischen Mystery-Thriller und Psychodrama. Vergleiche? Auch wenn er hinken mag, ist mir zumindest in den Winter-Szenen immer wieder Vincent Gallos verstörendes Survival-Drama ESSENTIAL KILLING in den Sinn gekommen. Nicht die schlechteste Referenz, wenn mich wer fragt ...
Eine Frau wacht in der Idylle der oberösterreichischen Bergwelt auf und stellt fest, dass sie durch eine unsichtbare Wand vom Rest der Welt getrennt ist. Was wie eine anstrengende existentialistische Versuchsanordnung klingt, ist in Wahrheit ein atemberaubend schöner, spannender und auf subtile Weise verdammt unheimlicher Film, der nach dem Abspann im Kopf des Zusehers weiterläuft. Meine dringende Empfehlung!