OT: Entre les Murs
SCHULDRAMA: FRANKREICH, 2008
Regie: Laurent Cantet
Darsteller: François Bégaudeau und 25 Schulkinder
Der Film begleitet eine Klasse (allesamt Laiendarsteller, die sich im Grunde selbst spielen) und ihren Französischlehrer im 20. Pariser Arrondissement, einem Multi-Kulti-Viertel und sozialen Brennpunkt, durch ihre Höhen und Tiefen während eines ganzen Schuljahres...
KRITIK:Regisseur Kantet sagte bei der Verleihung der Goldenen Palme:"Der Film den wir machen wollten, sollte aussehen wie die französische Gesellschaft, mit vielen Gesichtern, lebendig und komplex, mit Konflikten die nicht überüncht werden sollten."
Was eignet sich da wohl besser als das Portrait einer Schule? Ich denke, die Schulzeit ist wohl der größte gemeinsame Nenner in unser aller Leben. Wir alle saßen gemeinsam mit anderen in einer Klasse, mochten manche Mitschüler nicht, waren in andere verliebt, hassten diesen, zeigten sich von jenem Lehrer beeindruckt. Manche von uns hatten ihre liebe Not mit der Mathematik, andere wollten sich partout nicht in dieses Schema pressen lassen und rebellierten bei gleichzeitiger Verachtung der "Streber".
Diejenigen von uns, die es trotz sozialer Undurchlässigkeit, natürlich überwiegend wegen dem Faktum hochwohlgeboren zu sein, doch in den Rang des Akademikers schaffen, und vielleicht sogar dabei über die Sozialwissenschaften stolpern, werden "Heureka!" schreien, wenn sie dann eines Tages auf die soziologische Definition von Bildung stoßen. Diese ist nämlich nichts anderes als die Anpassung an die normierten Erfordernisse einer funktionierenden Gesellschaft.
Ein bisschen kritischer ausgedrückt: Das uns durch die herrschende Klasse aufoktroyierte Wissen, das wir benötigen um als Rädchen im System Furore zu machen. Aber es ist gar nicht so leicht die jeweils neue Generation zu prägen. Vor allem in der Pubertät, wo ein junger Mensch aufpassen in der Schule schon mal als kindisch empfinden kann. Überdies besagen Untersuchungen längst, dass Erziehen herzlich wenig Einfluss auf Kinder hat.
Vorleben lautet die Devise. Ein signifikant hoher Prozentsatz von Kindern wird nicht lesen, weil er in der Schule liest, oder weil er als Kind jeden Tag eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen bekommen hat, sondern weil er seine Eltern beim Lesen beobachten konnte.
(Das ist zumindest der heutige Forschungsstand, mal sehen was morgen populär ist;-)
Da fangen die Probleme aber erst richtig an. Denn wir leben in einer globalisierten Welt, in Städten sitzen in den meisten Klassenzimmern Vertreter aus über zehn Nationen, die über unterschiedlichste Verhaltencodes und ethnische Prägungen verfügen, und in vielen Fällen aus bildungsfernen Schichten stammen. Man kann sich also vorstellen wie unglaublich schwer ein Mensch, der sehr stark durch sein soziales Umfeld geprägt ist, damit zu kämpfen hat, sich in ein manchmal völlig neues Denk- und Verhaltensschema zu integrieren.
Da täten sich - um jetzt ein wenig plakativer zu werden - die Döblinger Prinzen und Prinzessinnen auch sehr schwer, ohne diese dafür kritisieren zu wollen, da sie ja auch nichts dafür können, erzogen worden zu sein signifikant erfolgreicher am Bildungsmarkt zu sein. Gerade deswegen muss man mit dem Begriff "bildungsfern" sehr aufpassen und sollte ihn immer auch mit dem Wissen um das Vorhandenseins eines anderen Kulturhintergrundes in Verbindung bringen, denn sonst würde man durch diese Definition allzu schnell eine Zweiklassengesellschaft akzeptieren
Und dieser Film schafft das wunderbar. Die Jugendlichen, so verschieden sie auch sein mögen, werden als intelligent und lebhaft dargestellt, sie haben Freude an der Diskussion und sie testen ihre Grenzen aus. Natürlich werden dabei oft Grenzen überschritten. Den Lehrern rutscht eine Beschimpfung heraus, die Schüler prügeln sich oder verweigern jegliche Kooperation.
Aber Fehler passieren nun einmal, schließlich handelt es sich um Menschen, mit ihren Widersprüchen aber auch mit ihrem Drang zur Harmonie und zur Lebensfreude bei gleichzeitiger Verletzlichkeit.
Am Ende schafft man es dann doch sich irgendwie zusammenzuraufen und sich weiter durchzuwursteln. Mit viel Einsatz gelingt es dem Lehrer Francois (der sich übrigens selbst spielt und auch gleichzeitig den Roman, auf dem der Film beruht, vorgelegt hat) seinen Schülern auf Augenhöhe, zumindest so gut es geht, zu begegnen und so eine halbwegs funktionierende Klassengemeinschaft zu gestalten, die vielleicht nicht immer die Lehrvorgaben erfüllt, aber ein friedliches, menschenwürdiges und zum gegenseitigen Austausch geneigtes Zusammenleben ermöglicht.
Das sind ja doch mal ganz gute Aussichten auf die zukünftige Gesellschaft. Zumindest wissen wir, dass es in den Kindern und Jugendlichen steckte, was wir als Erwachsenen vielleicht einmal verloren haben werden.
Humorvoll-optimistisches und doch semidokumentarisch anmutendes Schuldrama, welches den ungeheuer vielschichtigen Schulalltag mit all seinen komplex-zwischenmenschlichen Faktoren anschaulich einfängt, ohne dabei auch nur irgendwie überladen oder aufgesetzt zu wirken. Hoffnungsvoller und trotzdem kitschfreier Realismus, mal was ganz neues, also vergesst Dangerous Minds ;-). Exzellent!
Kinostart: 16.01.2009