OT: Jagten
DRAMA: DK, 2012
Regie: Thomas Vinterberg
Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp
Die Trennung liegt hinter ihm, und das Leben geht weiter. Lucas (Mads Mikkelsen) arbeitet jetzt im Kindergarten eines kleinen dänischen Dorfs. In die Gemeinschaft ist er bestens integriert; die Männerfreundschaftsrituale (Saufen, Schießen, noch mehr saufen) scheinen dem sanftmütigen, introvertierten Mann durchaus Freude zu bereiten. Doch von heute auf morgen ändert sich alles: Ein Mädchen im Kindergarten fühlt sich von ihm zurückgewiesen und "rächt" sich mit einer Lüge. Lucas weiß nicht wie ihm geschieht, als er von der Dorfgemeinschaft plötzlich übelst gemobbt wird ...
Leicht hat er es ja nicht, der neue Film von Thomas Vinterberg. Die Presse nannte das Drehbuch "absurd" und sprach von einem "Möchtegern-Hitchcock auf gehobenem Fernsehspielniveau". Nicht viel freundlicher die Kritik im profil, die eine sozialpornografische Schwarz-Weiß-Dramaturgie attestierte und Parallelen zum den "Voyeurismus-Zeremonien des Billigfernsehens" zog.
Die heftigste Kritik kommt von einer Facebook-Freundin, nennen wir sie Gini. Für sie ist der Film ein "manipulativer Schmarrn", angerichtet von einem Regisseur mit "Wunderknabenkomplex", der durch einen höchst problematischem Umgang mit dem Thema Kindesmissbrauch unangenehm auffällt. Ich darf wörtlich zitieren: "Kindesmissbrauch ist so ein komplexes und sensibles Thema, man schafft's erst seit ein, zwei Generationen, da überhaupt irgendwie drüber zu reden. Und das dann gleich so hinstellen, als ob falsche Verdächtigungen das genauso große (oder gar das größere) Problem wären, find ich irgendwie ... schäbig. Weils auch nicht stimmt: Wenn man sich Statistiken anschaut, dann sind das wirklich im Gegensatz zu echten Missbrauchsfällen Einzelfälle."
Ein hartes Urteil also für einen Regisseur, dessen Karriere einst mit einem Missbrauchsdrama "Das Fest" (1998) begann und mit dem Flop "Submarino" (2010) - ebenfalls eine Geschichte eines Missbrauchs - beinahe beendet schien. Man könnte also von einem zentralen Motiv im Werk des Regisseurs sprechen. Aber lassen wir den Mann selbst zu Wort kommen: "Nachdem "Das Fest" damals doch einiges an Aufregung ausgelöst hatte, erhielt ich lange Zeit Anfragen, auch die andere Seite der verhandelten Missbrauchsfälle zu zeigen. Auch von einem renommierten dänischen Kinderpsychologen, der mir eines Nachts jede Menge Unterlagen brachte, über Konzepte wie der "unterdrückten Erinnerung" und über die Theorie, dass "der Gedanke ein Virus" sei. Ich las diese Unterlagen gar nicht. Erst zehn Jahre später bin ich darüber gestolpert, doch dann war ich davon schockiert und fasziniert. Ich hatte das Gefühl, dass darin eine Geschichte steckte, die erzählt werden musste, die Geschichte einer modernen Hexenjagd."
Quelle: Wiener Zeitung
Diese "Hexenjagd" inszeniert Vinterberg äußerst präzise und spannend. Nach seinen ziemlich experimentellen Ausflügen in Endzeit- und Western-Gefilde hat der Regisseur zu einem "erdigeren", meinetwegen konservativeren Stil zurückgefunden. Der Film steht und fällt mit seinem Hauptdarsteller, dem immer wieder unglaublichen Mads Mikkelsen. Gegen ihn muss der restliche Cast beinahe zwangsläufiig verblassen. Und an dieser Stelle muss ich Kollegin Gini recht geben: Die Frauenfiguren sind leider wirklich bemerkenswert eindimensional gezeichnet; mit Ausnahme von Lucas' Freundin gibt es eigentlich nur ignorante Vollzicken (sorry) im Film.
Bleibt noch die Grundsatzfrage, wie glaubwürdig ein solches Lynchmob-Szenario denn wirklich ist. In Wirklichkeit hätte man die Verdächtigungen gegen einen ordentlich in die verschworene Dorfgemeinschaft integrierten Mann, der brav sein Bier auf Ex trinkt, dem besten Freund ohne zu zögern ins eiskalte Wasser nachspringt und dem Hirsch im Wald tapfer zwischen die Augen schießt, einfach nicht geglaubt. Im Sub-Genre der ländlichen Lynchmob-Filme – ich denke vor allem an den über vierzig Jahre alten JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN oder den ebenfalls in einem dänischen Dorf angesiedelten DELIVER US FROM EVIL richtet sich die Aggression stets gegen Außenseiter, nie gegen einen der „Unsrigen“.
Die Lüge eines Kindes bedroht Existenz und Leben eines Kindergärtners. 15 Jahre nach DAS FEST greift Tomas Vinterberg erneut das Thema Kindesmissbrauch auf - diesmal aus einer durchaus kontroversiellen Perspektive. Spannend und souverän gespielt ist der Film auf alle Fälle; ob das diffizile Thema angemessen umgesetzt wurde, muss jeder für sich selbst beantworten.