OT: La grande bouffe
KOMÖDIE/DRAMA: F, 1973
Regie: Marco Ferreri
Darsteller: Marcello Mastroianni, Michel Piccoli, Philippe Noiret, Ugo Tognazzi, Andréa Ferreol
Die vier Herrn Marcello (Mastroianni), Michel (Piccoli), Philippe (Noiret) und Ugo (Tognazzi), allesamt gut situiert, gebildet und mit Opernball-tauglichen Umgangsformen ausgestattet, quartieren sich in eine Villa in der Pariser Vorstadt ein. Man diskutiert den (nicht vorhandenen) Sinn des Lebens, erörtert die künstlerische Qualität von Schwarzweiß-Nacktfotos aus der Jahrhundertwende an und lässt tonnenweise Lebensmittel anliefern. Der Plan ist, sich buchstäblich zu Tode zu fressen. Damit der Abgang etwas lustvoller wird, werden auch noch drei junge Prostituierte und eine Lehrerin eingeladen ...
KRITIK:Es ist nicht unbedingt einfach, Marco Ferreris "Skandalfilm" aus dem Jahre 1973 halbwegs schlüssig zu interpretieren.
Wäre ich Theologe, hätte ich ein einprägsames Portrait über die Auswirkungen der Todsünden Völlerei,
Maßlosigkeit und Lüsternheit gesehen.
Wäre ich ein Alt-68er, wäre der Fall genauso klar: Es kann sich nur um eine wütende,
radikale Kritik am Materialismus der bourgeoisen Gesellschaft handeln,
die irgendwann an ihrer Gier ersticken wird.
Mein alter Lateinlehrer, ein Kulturpessimist durch und durch, hätte sich die bange Frage gestellt:
Amüsieren wir uns zu Tode, wir dekadenten westlichen Wohlstandskinder?
Wie auch immer. Das Große Fressen ist ein äußerst interessantes Beispiel dafür,
was vor ungefähr 200 Jahren im europäischen Kunstkino möglich war:
Im Stil eines barocken Weltuntergangs-Gemäldes wird unentwegt gefressen, gefurzt, gevögelt
und schlussendlich gestorben.
Besonders "feinsinnig" geht es dabei nicht zu,
mit zunehmendem Verlauf ihrer Orgie pfeifen die "feinen" Herrn auf ihre antrainierten Elmayer-Manieren
und lassen ihr wahres Ich heraus.
Das ist allemal ehrlicher als ihre scheissfreundlichen und verlogenen Höflichkeitsfloskeln.
Der Film wird oft in einem Atemzug mit Die 120 Tage von Sodom genannt.
Hier wie da wird nach einem fest vorgegeben Ritual gestorben ... im Grossen Fressen
allerdings freiwillig und ohne jede Gewalteinwirkung, was den Film vergleichsweise "leichtverdaulich" macht.
Gesehen haben muss man diese beiden Klassiker ohnedies.
Die prächtige Ausstattung und die Starbesetzung dieses in jeder Hinsicht maßlosen,
morbiden Kunstwerks sollte man vielleicht auch noch erwähnen.
Kollege Patrasch hat mal gemeint, dieser Film würde seine acht Hobbys zusammenfassen: 6 :-), Fressen und Saufen.
Nun ja.
Auf alle Fälle ein interessanter, maßloser und morbider Klassiker, ohne dessen Pionierarbeit in Sachen Tabubruch
heutige Provokationskunstwerke wie etwa Taxidermia
undenkbar wären.