WESTERN/DRAMA: A/D, 2014
Regie: Andreas Prochaska
Darsteller: Sam Riley, Tobias Moretti, Paula Beer, Erwin Steinhauer, Hans-Michael Rehberg
Das titelgebende finstere Tal wird vom Brenner-Bauern mit eiserner Faust beherrscht. Sechs Söhne hat der alte Mann. Sie sorgen dafür, dass sein Wille Gesetz ist im Tal. Eines Tages im Frühwinter, bevor der mannshohe Schnee das Tal hermetisch abriegelt, taucht ein mysteriöser Fremder auf. Er hat eine Kamera dabei. Damit weckt er die Neugier der Menschen. Er hat aber auch ein Gewehr. Und wenn es einmal eingesetzt wird, kommt der Pfarrer mit dem Läuten der Totenglocke nicht mehr nach ...
"Große Abwanderung im Kinosaal und belustigte Kommentare gab es vollkommen zu Recht für diesen kruden Alpen-Western, seine einfältigen Dialoge und einen schwachen Hauptdarsteller. Sehenswert immerhin sind die Bilder der eingeschneiten Bergwelt, die für Liebhaber brutaler, nicht enden wollender Schießereien, unterlegt mit einem wichtigtuerischen Soundtrack, einen im Kino gern ausgeschlachteten Mehrwert haben: dass Blut auf Schnee so gut kommt."
Nein, die Kritik auf orf.at berichtet nicht aus einem Vorstadt-Multiplex, wo man davon ausgehen kann, dass das Publikum alle zwei Minuten aufs Klo rennt und depperte Kommentare absondert. Die Rede ist von der Berlinale. Ich hoffe ja inständig, dass der Autor massiv übertrieben hat. Anderenfalls wäre das ein erschütternder Befund über die Intelligenz des durchschnittlichen deutschen Filmfestivalbesuchers.
Die Wahrheit - ihr werdet es geahnt haben - ist natürlich eine ganz andere: DAS FINSTERE TAL ist der beste österreichische Film seit 100 Jahren. Mindestens. Und nur Ketzer fragen jetzt hämisch, welche österreichischen Filme aus den letzten 100 Jahren denn sonst noch gut wären. "Oktober November" kürzlich war großartig. "Die Wand". Die Brenner-Filme. Praktisch das Gesamtwerk von Ulrich Seidl und Michael Glawogger. Auch einiges von Michael Haneke. "Die Siebtelbauern", falls wer kennt. "Die Fälscher". Bitte, damit waren wir immerhin Oscar. Und der großartige zweite Teil von Andreas Prochaskas "In drei Tagen bist du tot". Der hat die Richtung, in die DAS FINSTERE TAL geht, schon sehr atmosphärisch angedeutet. Es gibt also wirklich keinen Grund mehr, über das österreichische Kino aus Prinzip die Nase zu rümpfen. Aber ich schweife ab.
DAS FINSTERE TAL ist ein wuchtiger Western im tiefen Schnee. Wobei der häufig strapazierte Vergleich mit LEICHEN PFLASTERN SEINEN WEG so nicht stimmt. Im Grunde hat Prochaskas Alpen-Western mit dem berühmten Italowestern-Meilenstein nicht viel mehr als den Schnee gemeinsam. Und dass Tobias Moretti die selbe schicke Hut-Schal-Kombination trägt wie weiland Klaus Kinski. Er wollte keinen Zitatewestern drehen, sagte Regisseur Andreas Prochaska im Interview mit dem Standard. Tatsächlich ist sein Film ein höchst eigenständiges Werk, das Genre-Konventionen ohne jede Peinlichkeit in eine vertraute alpenländische Umgebung einbettet.
Wie schon in den erfolgreichen "In drei Tagen bist du tot"-Filmen wird auch hier im Dialekt gesprochen. Ob das Tirolerisch authentisch ist, mögen tirolerische Native Speaker beurteilen. Stimmig klingt es auf alle Fälle. Auch das angelernte Deutsch von Hauptdarsteller Sam Riley ("Control") klingt keine Sekunde peinlich. Der fremde Akzent passt perfekt zur Erscheinung des mysteriösen Fremden.
Und überhaupt: Die Tonspur! Selten einen deutschsprachigen Film mit einem derartig effektiven Sounddesign gesehen - bzw. gehört. Stiefel knirschen im Schnee, das Echo der Schüsse hallt, angeschossene Männer röcheln und brüllen in Todesangst, die Totenglocke läutet durch die Nacht. Und die Musik: Fragiler österreichischer Indie-Pop (Clara Luzia, Steaming Satellites) trifft auf wuchtige Symphonieorchester-Stücke, wie man sie sonst nur in wesentlich fetter budgetierten Blockbustern hört.
Der Film beruht auf dem gleichnamigen Roman des Journalisten Thomas Willmann. Wie mir belesene Facebook-Freunde versichern, soll der Film das Buch tatsächlich um Längen schlagen - und nicht umgekehrt. So viel zum dummen Stammtisch-Klischee, wonach Romanverfilmungen aus Prinzip nix taugen ...
Ich wiederhole mich: DAS FINSTERE TAL ist ein großartiger Film. Mit einem im deutschen Sprachraum sehr raren Gefühl für Rhythmus und Atmosphäre lässt Prochaska zwei Film-Gattungen - den Western und das Heimat-Drama - zu einem schönen runden Gesamtkunstwerk verschmelzen. Trotz getragenen Tempos entwickelt DAS FINSTERE TAL eine Sogkraft und eine Spannung, aus der es kein Entkommen gibt.
Der Cast mag sich abenteuerlich anhören: Heimische TV-Prominenz neben einem britischen Jungstar, dem man den Westernhelden nicht unbedingt auf den ersten Blick abnimmt. Aber: Hut ab vor diesem Ensemble, in dem jede einzelne Figur passt wie die Faust aufs Auge - bzw. der Hufnagel ins Auge. Und ja, Moretti ist gut. Keine Diskussion.
Der Härtegrad ist übrigens durchaus forciert. Ein Western ist schließlich keine Kinderjausen. Aber härter als die graphischen Effekte ist die archaische Brutalität der - wie drücken wir das aus, ohne etwas zu spoilern? - Machtverhältnisse in diesem abgeschiedenen Alpental. In guter alter Italowestern-Tradition ist DAS FINSTERE TAL auch eine Geschichte eines Befreiungskampfes. In dem die zeitlose philosophische Frage gestellt wird, ob denn die Befreiten auch wirklich bereit sind für ihre Befreiung.
Wie auch immer, bevor diese Rezension längen- und assoziationsmäßig völlig ausufert, befreie ich euch von der Lektüre. Wir sehen uns in Kürze wieder im Kinosaal, bei meinem zweiten Abstieg ins finstere Tal.
Die eh schon gewaltige Erwartungshaltung meinerseits wurde sogar noch übertroffen: DAS FINSTERE TAL ist ein hochdramatischer und enorm spannender Film, der Genre-Konventionen auf völlig überzeugende Weise in ein vertrautes alpines Setting überträgt. Der stärkste deutschsprachige Genre-Film seit den Siebziger Jahren, mindestens.