OT: La Tourneuse de pages
THRILLER: F, 2006
Regie: Denis Dercourt
Darsteller: Catherine Frot, Déborah François, Pascal Greggory
Das Klavier ist Mélanies Leben. Das junge Mädchen übt hart, selbst in der Nacht perfektioniert sie ihre Stücke. Mélanies Traum wird jäh zerstört, als sie während der Aufnahmenprüfung fürs Musikkonservatorium von einem Jurymitglied, einer erfolgreichen Pianistin, abgelenkt und aus dem Spiel gebracht wird. Mélanie hört mit dem Klavierspielen auf. Jahre später bietet sich ihr die Chance auf eine Revange als sie ausgerechnet die Stelle des Kindermädchens in der Familie der Frau, die Mélanies Lebenstraum vor vielen Jahren ein so abruptes Ende bereitet hatte, ergattert. Es dauert nicht lange, bis Mélanie mehr als nur das Kindermädchen ist, schon bald steigt sie zur Notenumblätterin auf…
KRITIK: "Die Umblätterin kann alles aus dem Gleichgewicht bringen."
Diesen Satz sagt
eine der Figuren im Laufe des Films. Wie sehr sie damit Recht hat, zeigt Denis
Dercourt in seinem knapp 80 minütigen Werk.
Bereits der Einstieg ist furios. Ein junges Mädchen sitzt mit verbissenem Gesicht
vor dem Klavier. Mélanie. Parallel dazu sieht man jemanden Fleisch zerhacken.
Während Mélanies Finger über die schwarzen und weißen Tasten huschen,
verarbeiten ihre Eltern Fleisch zu Wurst und ähnlichem. Das ist die Welt aus der
Mélanie kommt. Doch wer jetzt denkt, dass das Klavierspiel eine Art Flucht vor der
harten, rauen Welt der Eltern ist, irrt. Im Gegensatz zu anderen Filmen, wird
Mélanies Background nicht als Entschuldigung genommen, im Gegenteil, ihre Eltern
zeigen außergewöhnlich viel Verständnis und Engagement, ohne sie jedoch zum
Klavierspielen zu zwingen.
Bereits hier zeigt sich, dass der Film mit der Erwartungshaltung der Zuseher spielt.
Falsche Fährten liegen überall. Am ehesten lässt sich der Film ja noch mit
unberechenbar beschreiben. So wie die Figur der Mélanie.
Im Mittelpunkt von "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" stehen zwei
Frauen. Mélanie, eine ehrgeizige Metzgerstochter und Ariane Fouchécourt, eine
Konzertpianisten. Der Film konzentriert sich auf die Beziehung der beiden Frauen und
das Kräfteverhältnis, das zwischen ihnen herrscht.
Zu Beginn ist es Mélanie, die
unterlegen ist. Das kleine Mädchen ist chancenlos gegen die erfolgreiche und
hochnäsig wirkende Pianisten. Jahre später hat sich das Kräfteverhältnis
umgekehrt. Aus der ehemaligen Starpianistin wurde eine von Ängsten geplagte Frau,
deren Karriere am Tiefpunkt ist. Sie ist schwach und verletzlich, im Gegensatz zu
Mélanie, die schon als Kind gelernt zu haben scheint, wie man Gefühle am besten
unterdrückt. Mit versteinertem Gesichtsausdruck, der Härte und Ruhe zugleich
ausstrahlt, wird sie mehr und mehr ein Teil von Arianes Leben. Sie beginnt zunehmend
Besitz von ihr zu ergreifen und treibt sie in eine Abhängigkeit.
Wie bereits oben erwähnt lässt der Film den Zuseher lange Zeit im Unklaren über
den weitern Verlauf. Und zieht daraus auch seine Spannung. Wenn Mélanie und Ariane
bei einem wichtigen Konzert Seite an Seite am Klavier sitzen und Mélanie Ariane mit
diesem unglaublich intensiven, hasserfüllten Blick ansieht rechnet man jede Minute,
jede Sekunde damit, dass etwas passiert. Dass eigentlich nichts passiert. Mélanie
müsste nur sitzen bleiben, warten, nicht im richtigen Moment aufzustehen um die
Seite umzublättern. Oder wenn Ariane mit zittrigen Händen beginnt langsam Klavier
zu spielen, hat man als Zuseher das Gefühl, dass gleich etwas passieren wird. Mehr
noch, passieren muss.
Oder aber im Haus, wenn Mélanie mit Arianes Sohn alleine ist. Würde Mélanie so
weit gehen, das Kind zu verletzen um seiner Mutter einen Schmerz zuzufügen? Gelingt
es ihr irgendwie die Laufbahn des Kindes zu zerstören, so wie ihre Karriere im
Kindesalter ein jähes Ende fand?
Während sich im Kopf des Zusehers mögliche Varianten ausbilden, Rachepläne
geschmiedet werden, passiert im Film oftmals ... nichts. Und genau in dem Moment, in
dem man sich als Zuseher sicher fühlt, gerät das ganze kurzzeitig außer
Kontrolle.
Regisseur Denis Dercourt gelingt es mit Leichtigkeit die Spannung aufrechtzuerhalten
und er muss dabei nicht einmal auf irgendwelche überraschenden Wendungen setzen.
Stattdessen setzt er auf eine ausgeklügelte Story und starke Schauspieler. Für
seinen Film setzt er auf auffallend ruhige, kühle Bilder. Und auf die Spannung, die
zwischen seinen Figuren herrscht und von den Schauspielern kongenial dargestellt
werden.
Déborah François als Mélanie, und Catherine Frot als Ariane überzeugen auf
ganzer Linie. François schafft es trotz minimaler Mimik einen bleibenden Eindruck
zu hinterlassen, auch wenn die Figur der Mélanie dem Zuseher stets
ein Rätsel bleibt. Vielleicht auch gerade deswegen. Während François im Film nur
selten Gefühle zeigt, tut es ihre Kollegin Catherine Frot umso stärker. Diese
versteht es wunderbar eine Frau, die nach und nach die Kontrolle verliert,
darzustellen.
Ebenso nüchtern und schnörkellos wie die ganze Erzählstruktur der Films, fallen
auch die Bilder aus. Trotz all dieses Kühle und formalen Strenge gelang es Dercourt
auch immer wieder Bilder zu finden, die das Verhältnis der Figuren, die Spannungen
zwischen ihnen, zeigen.
Rachethriller der etwas anderen Art. Statt überraschender Wendungen, Nebenplots und
geheimnisvoller Fremder gibt es ein nervenaufreibendes Psychoduell, in dem die
Fronten schon von vornhinein klar abgestreckt zu sein scheinen. Auch Schockeffekte
findet man so gut wie kaum. "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" kommt auf
leisen Sohlen daher und spielt mit der Erwartungshaltung der Zuseher. Die Story
wirkt zwar oftmals konstruiert, was in diesem Fall aber nicht unbedingt ein Nachteil
ist. In kühlen Bildern wird die Chronologie einer Rache erzählt, kalt und
emotionslos. Kompromisslos.
Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt serviert.